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Die Sache mit der Akzeptanz
Linke und GEW diskutieren über die Bildungspolitik während und nach Corona
»Dieser ganze Wahn mit den Vergleichstests - das muss endlich weg«, sagt Regina Kittler. Die bildungspolitische Sprecherin der Berliner Linksfraktion macht sich seit Langem dafür stark, dass das System Schule nicht mehr als Leistungsfabrik verstanden wird. So auch am Dienstagabend bei der länderübergreifenden Online-Podiumsdiskussion mit der Bildungsexpertin in der Brandenburger Linksfraktion, Kathrin Dannenberg, und den beiden Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Tom Erdmann und Günther Fuchs.
»Wir können vergessen, dass wir einfach so weitermachen wie bisher«, sagt Bildungssprecherin Dannenberg und rennt in der Debatte unter dem Obertitel »Nach Corona - wie weiter mit der Bildung?« bei Kittler, Erdmann und Fuchs offene Türen ein. Wobei Kittler einräumt, »dass genau das die Befürchtung ist«. Dabei gäbe es zahlreiche abzuarbeitende Baustellen, auch unabhängig von der Pandemie. Eine Entschlackung der Lehrpläne, eine deutliche Aufstockung des Personalbestands, individuelle Förderkonzepte für Schüler, inklusivere Schulen, Stärkung der Gemeinschaftsschulen: Die Liste der Punkte, bei denen die Bildungsverwaltungen von Berlin und Brandenburg »aus dem Knick kommen« sollen, ist lang, so Dannenberg.
In beiden Ländern sind die entsprechenden Ressorts freilich seit über zwei Jahrzehnten fest in SPD-Hand. Und was etwa die Forderung nach der Abschaffung von Vergleichsarbeiten angeht, so ist nicht erkennbar, dass Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres oder ihre Brandenburger Amtskollegin Britta Ernst derlei auch nur in Erwägung ziehen.
Gleiches gilt für den Wunsch der Linke-Politikerinnen, dem Notenzwang ein Ende zu bereiten. Brandenburgs GEW-Chef Fuchs warnt die Genossinnen in der Diskussion dann auch vor Maximalforderungen. »Das wird nichts bringen«, glaubt Fuchs. Es gebe dazu, zumindest in Brandenburg, keinen Konsens, nicht einmal unter den Lehrkräften.
Das sieht Fuchs’ Kollege von der Hauptstadt-GEW ähnlich. »Als Bildungspolitiker finde ich die Forderung nach einem Ende des irren Notenwahns selbstverständlich gut«, sagt Tom Erdmann. Aber er sehe eben auch die Sorgen vieler Lehrkräfte vor der mit einem solchen Schritt verbundenen Mehrarbeit. »Zudem gibt es ja noch die Kollegen, die sich hier wie Suchtkranke verhalten: Immer nur dem Stoff hinterher.« Und dagegen komme man auch als Gewerkschaft nur schwer an, so Erdmann.
Linke-Politikerin Kathrin Dannenberg bleibt zwar dabei: »Nach wie vor bin ich der Meinung, dass Leistungsrückmeldungen in Form von Noten eher langweilig sind.« Zugleich gibt sie den Gewerkschaftern aber insofern recht, als man in Sachen Bildungspolitik nur gemeinsam vorankommt - »dass es natürlich Mehrheiten braucht, um Akzeptanz zu schaffen«.
Was es nach Ansicht der Linken mindestens ebenso nötig braucht, ist mehr Geld im Bildungshaushalt. Das von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) angekündigte Zwei-Milliarden-Euro-Paket, um die Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche abzumildern, sei »eine absolut bodenlose Frechheit«, ärgert sich Regina Kittler. Man müsse sich nur einmal vergegenwärtigen, wie viel Geld in die Rettung von Fluglinien geflossen sei und dazu den vom Bund in Aussicht gestellten Betrag in Relation setzen zur bundesweiten Zahl der Schüler: »Das sind Almosen.«
Karliczek ist nicht die einzige, gegen die Kittler ausholt. Ihr Ärger richtet sich bei der Gelegenheit auch gegen die Eltern, die mit ihren Eilanträgen gegen den Wechselunterricht vor dem Berliner Verwaltungsgericht am Dienstag letztlich das komplette aktuelle Beschulungsmodell in der Stadt zu Fall gebracht haben.
»Denen, die jetzt fordern: ›Alle zurück in die Schulen!‹, ist es völlig egal, dass es insbesondere in den sogenannten Brennpunktquartieren nach wie vor viel zu hohe Sieben-Tages-Inzidenzen gibt, vor allem unter den Schülerinnen und Schülern.« Was auch an die in Berlin mitregierenden Grünen gerichtet ist, die sich ebenfalls lautstark für ein Ende des Wechselunterrichts noch vor den Sommerferien eingesetzt hatten.
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Klar sei eben, darin ist sich die Runde einig, dass die Pandemie längst nicht vorbei ist. Brandenburgs GEW-Chef Fuchs sagt: »Wir haben alle noch nicht auf dem Schirm, wie lange uns das Thema noch beschäftigen wird. Noch sehr lang.«
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