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Kampf der Hybriden
In der Netflix-Serie »Sweet Tooth« ringt eine postapokalyptische Welt mit den Folgen einer Pandemie
Noch sind literarische und filmische Erzählungen über Pandemien, die auch mehr oder weniger direkt Bezug auf Corona nehmen, dünn gesät. Eher trashig und konventionell inszeniert ist der kürzlich herausgekommene Amazon-Prime-Film »Songbird«, der von einer mutierten Corona-Pandemie (Covid-23) in naher Zukunft erzählt, die mit einer Sterberate von über 80 Prozent einhergeht und direkt in eine postapokalyptische Welt mit repressiver staatlicher Seuchenbekämpfung führt. Dieser Rückgriff auf ein möglichst drastisches Thrillerszenario steht nach wie vor bei vielen Pandemieerzählungen Pate und entspricht auch dem, was nach der Schweinepest im Blockbuster »Contagion« (2011) als hollywoodeske Maximaleskalation zum narrativen Standard dieses Subgenres wurde. Ähnlich verhielt es sich auch in der schon vor Corona konzipierten und gedrehten ZDFneo-Serie »Sløborn« (2020), in der nicht nur nach zweimaligem Husten gleich gestorben wird, sondern auch ein rücksichtsloser Staat im Kampf gegen die Pandemie in Szene gesetzt wird. Ganz ähnlich passiert das auch im Remake der britischen Kultserie »Utopia« (2020) auf Amazon Prime.
Die komplexeren Zwischentöne, die heute zum Pandemiealltag gehören und gesellschaftspolitische Debatten bestimmen, von der hygienischen Selbstkontrolle, den sozialen Folgen des Lockdowns und damit einhergehenden psychischen Verhaltensweisen, bis zu den ökonomischen Konsequenzen und einer veränderten Arbeitswelt, erleben hier keinerlei Aufarbeitung. Lediglich die Ende Juni auf Amazon erscheinende Anthologieserie »Solos« schlägt andere Töne an und arbeitet sich an Verlust, Trauer und verpassten Lebenschancen ab. Stattdessen wird in der kulturindustriellen Bearbeitung des Stoffs zumeist immer noch eine möglichst drakonische Seuchenbekämpfung durch einen totalitären Staat inszeniert, die auch der Fantasie des einen oder anderen Querdenkers entspringen könnte.
Eine etwas andere Perspektive bietet die filmische Adaption des Kultcomics »Sweet Tooth« des kanadischen Künstlers Jeff Lemire, die jetzt bei Netflix als sehr aufwendig produzierte achtteilige Serie zu sehen ist. Zwar ist auch sie die Inszenierung einer postapokalyptischen Welt, aber das zugrundeliegende Narrativ hebt sich trotzdem sehr deutlich von anderen Pandemieerzählungen ab.
Die das menschliche Zusammenleben brutal verändernde Krankheit wird hier als Ausdruck einer ressourcenvernichtenden, rücksichtslosen Ausbeutung des Planeten Erde verstanden und eine ganze Gruppe Jugendlicher kämpft gegen ältere Männer, die inmitten des Chaos einen Status quo der Herrschaft aufrechtzuerhalten versuchen. Insofern passt diese Ökofiktion auch gut zur Generation »Fridays for Future«.
Menschen werden keine mehr geboren in dieser fiktiven nahen Zukunft, sondern nur noch hybride Wesen, die sowohl Mensch als auch Tier sind und im Zuge einer vermeintlichen Seucheneindämmung gejagt und getötet werden. Aber der Titelheld Sweet Tooth (Christian Convery), ein neunjähriger Junge, der halb Hirsch und halb Mensch ist, versucht sich mit dem zwischen allen Fronten stehenden Tommy Jepperd (Nonzo Anozie) in dieser gefährlichen Welt zu behaupten. Im Vergleich zum Comic, der in 46 Heften zwischen 2009 und 2013 (und mit einem Remake seit 2020) erst bei Vertigo und dann bei DC-Comics erschienen ist, wirkt die Bildästhetik der Serie allerdings viel zu nett und niedlich.
Jeff Lemires Abenteuer des Hybriden Gus (so der eigentliche Name von Sweet Tooth) und seines knallharten Begleiters sind eher im Stil einer anspruchsvollen Graphic Novel gehalten, die mitunter recht düster wirkt und den in der Serie immer wieder freundlich lächelnden Sweet Tooth ohne fröhliches Gesicht zeigt. Dennoch ist die Serie kein platter Abklatsch dieses Comics, dessen in unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelte Einzelepisoden kaum eins zu eins verfilmbar wären, sodass die Serie einem eigenen dramaturgischen Faden folgt. Gus alias Sweet Tooth wächst mit seinem Vater versteckt im Wald auf, muss sich aber irgendwann auf den Weg in die weite Welt machen und sucht seine angeblich verstorbene Mutter. Dabei trifft er auf den ehemaligen Footballprofi Jepperd, der lange Zeit Hybriden jagte und sich mittlerweile von allen tribalistischen Fraktionen in diesem postapokalyptischen Chaos abgewandt hat. Neben einer überbordenden Natur gibt es in dieser Zukunft jede Menge halb zerstörter Städte, Gated Communitys und verlassene urbane Brachen. Das Reisen durch diese Welt, egal ob zu Fuß durch Wälder oder per Bahn, ist immer gefährlich.
Aber Sweet Tooth verfügt als Hybride über besondere Fähigkeiten, hat einen außergewöhnlichen Geruchssinn und kann im Dunklen sehen. Zusammen mit Jepperd begegnet er ganz unterschiedlichen Menschen, die zumeist Angst vor Hybriden haben, ihnen feindselig gegenüberstehen oder aber sie solidarisch unterstützen und für ihre Freiheit kämpfen.
In einer weiteren Erzählebene geht es um den Wissenschaftler Dr. Singh (Adeel Akhtar), der mit seiner kranken Frau in einer abgeschlossenen Stadt lebt, unter den dortigen strengen und geradezu aberwitzigen Hygienevorschriften leidet, verzweifelt versucht, ein Mittel gegen die Pandemie zu finden, und dabei auch auf grausige Praktiken gegen Hybride zurückgreift.
Mit dem Thema Hybride beschäftigte sich auch Donna Haraway in ihrem Buch »Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän« (2018), wobei sich hier Menschen bewusst entscheiden, Kinder mit Tieren genetisch zu kreuzen, um bedrohte Arten zu erhalten. Auch der in den hiesigen Feuilletons beliebte deutsche Nachwuchsautor Joschua Groß griff dieses Motiv unlängst in seinem Erzählband »Entkommen« in einem längeren fiktionalen, novellenartigen Text auf.
In »Sweet Tooth« entscheidet sich aber niemand dafür, Hybride zu sein oder seine Kinder dazu zu machen. Es wird vielmehr eine Entwicklung dargestellt, mit der Menschen plötzlich konfrontiert werden. Wobei die meisten darauf mit Skepsis und Angst reagieren, die Hybriden einsperren und auch als auszuschlachtende Ressource im Kampf gegen die Pandemie missbrauchen. Andere entwickeln daraus wiederum eine identitäre Kampfstrategie, um sich gegen den Status quo aufzulehnen. Die »Animals Army«, die in einem heruntergekommenen Vergnügungspark haust und gegen die »Letzten Männer« kämpft, die Hybriden jagen und das postapokalyptische Chaos verwalten wollen, verklärt die gegen die Pandemie immunen Hybriden zu Boten eines neuen und besseren Zeitalters. Insofern arbeitet die Serie das Thema Pandemie weitaus differenzierter auf, als es derzeit in anderen popkulturellen Formaten der Fantastik geschieht. Ob dieses Narrativ der Pandemie als menschengemachtes Umwelt- bzw. Klimaproblem im Anthropozän für kommende filmische und literarische Pandemieerzählungen wirklich stilbildend werden kann, bleibt aber abzuwarten.
»Sweet Tooth« auf Netflix ab 4.6.
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