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Von Brücken und Brüchen
Amerikanisch-jüdische Medien: Über die politische Entwicklung US-amerikanischer Juden – und die ihrer Zeitschriften
Ein genauer Blick auf Zeitschriften kann uns viel über jene Menschen verraten, die sie lesen. Besonders wenn es um eine Gruppe wie die US-amerikanischen Juden geht, die verstreut in verschiedenen Regionen und religiösen Organisationen beheimatet sind, kann das aufschlussreich sein. In diesen Zeiten - zwischen Trump und Biden, Black-Lives-Matter-Bewegung und dem Krieg zwischen Israel und der Hamas - lohnt ein Blick in den jüdisch-amerikanischen Blätterwald.
Über Jahrzehnte war die »Commentary«, die im Jahr 1945 vom American Jewish Committee gegründet worden war, die zentrale Zeitschrift des amerikanischen Judentums. Die ganze Welt stand unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der Shoah. Das Einzige, was vielen Juden damals übrig blieb, war ein Neuanfang.
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
Das Magazin »Commentary« wurde so etwas wie das Zentralorgan des jüdischen Lebens in den USA. Die Zeitschrift verband fast das gesamte politische Spektrum von der antistalinistischen Linken bis zu den Konservativen. Über die Jahrzehnte wurde das Blatt in mehr als 60 000 Haushalten gelesen und fand sogar seinen Weg in die Popkultur. Woody Allen zeigte sich - oder besser versteckte sich - hinter der Zeitschrift in seinen Selbstporträts in der New Yorker U-Bahn. Die »Commentary« begleitete zwei entscheidende gesellschaftliche Entwicklungen publizistisch: die Aufarbeitung der Shoah und den Aufbau des Staates Israel. Die Leser debattierten wohl über so manches am Esstisch, aber die Nürnberger Prozesse oder die Gründung Israels im Jahr 1948 bewegten alle Juden zutiefst. Die Funktion der Zeitschrift bestand darin, an der kulturellen Entwicklung einer jüdischen Heimat in der Neuen Welt mitzuwirken.
Das American Jewish Committee bestand aus alteingesessenen Juden; die Autoren und die Leserschaft des Magazins aber hatten gerade erst Fuß gefasst in der US-Gesellschaft: von Hannah Arendt bis Philip Roth, von Isaac Bashevis Singer bis Susan Sontag, von Alfred Kazin bis Alan Dershowitz wurde eine neue kollektive Identität geschmiedet.
Die verschiedenen Funktionen der Zeitschrift bedingten sich gegenseitig. Alfred Kazin, der bedeutende Schriftsteller der jüdischen Einwanderer, beschrieb in »Commentary«, wie er im Jahr 1945 Radio hörte: »Ich hörte die befreiten jüdischen Gefangenen in Bergen-Belsen das Schma Jisrael rezitieren … Weinend im Regen, rezitierte ich es mit ihnen. Für einen Moment war ich zu Hause.« Denn für diese Generation war Amerika nicht selbstverständlich ihr Zuhause. Der konservative Jurist Alan Dershowitz schrieb, dass die größte Reise, die er als junger Mann gemacht habe, die Überquerung der Brücke von Brooklyn nach Manhattan gewesen sei, wohin er zum Studium gegangen war. Seine Kindheit in Brooklyn unter orthodoxen Juden war eher wie eine Kindheit im Schtetl. Erst auf der anderen Seite der Brücke begann die Neue Welt. Für Dershowitz und eine überwältigende Mehrheit der amerikanischen Juden führte diese Brücke auch direkt in die Demokratische Partei.
Vor diesem Hintergrund erwuchs, nicht nur unter den konservativen »Commentary«-Lesern wie Dershowitz, eine Bindung zum jungen Staat Israel. Auch Bernie Sanders ist bei seinen jüdischen Eltern in Brooklyn aufgewachsen und verbrachte als junger Mann in den 60er Jahren einige Zeit als freiwilliger Helfer in dem israelischen Kibbutz Shaar Ha’makim. Damals war Israel stark sozialdemokratisch geprägt. Erst nach der Gründung der konservativen israelischen Partei Likud im Jahr 1973 änderten sich allmählich die Ansichten unter den linken amerikanischen Juden wie Sanders.
Dominierte zwar nach wie vor die »Commentary« die amerikanisch-jüdische Medienlandschaft, kam mit Gründung der progressiven Zeitschrift »Tikkun« durch den Aktivisten Michael Lerner im Jahr 1986 mehr publizistische Vielfalt auf. »Tikkun Olam« - das bedeutet: Wiederherstellung der Harmonie. Im Kampf für soziale Gerechtigkeit sah Lerner seine Mission. Er wollte die progressive jüdische Geschichte in den USA wieder in den Vordergrund stellen. »Tikkun« warb für sich selbst als größte progressive jüdische Zeitung der Welt und hat noch heute 20 000 Abonnenten. Auch Bernie Sanders plädierte in dieser Zeit für eine alternative jüdische Lobby in Washington. Aber erst im Jahr 2008 gesellte sich die israelkritische Lobbygruppe »J Street« zu der dominierenden Lobbygruppe American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) hinzu. Für Sanders standen allerdings weder Israel noch Israel-Kritik im Zentrum seiner linken Agenda.
Im letzten Jahr - während der Proteste nach dem Tod George Floyds - kam es zu einem der markantesten Brüche in der jüdischen Öffentlichkeit, als der ehemals liberale Zionist Peter Beinart eine Kehrtwende in puncto Israel einlegte: Der 50-Jährige wurde Chefkommentator der »Jewish Currents«, die im Jahr 1946 als Zeitung der jüdischen Kommunisten (unter dem Titel »Jewish Life«) gegründet worden war. Bereits 2018 hat sich das Organ erneuert, um für die sogenannten jungen linken Millennials interessanter zu sein. Im Mai dieses Jahres hat Peter Beinart zum Erstaunen der jüdischen Öffentlichkeit nicht nur die israelische Politik kritisiert, sondern ein grundsätzliches Recht auf Rückkehr für Palästinenser und ihre Nachfahren gefordert und somit seine Unterstützung für eine palästinensisch-jüdische Ein-Staaten-Lösung gezeigt.
Beinart betrachtet sich selbst als Pionier. In seinem Buch »Crisis of Zionism« aus dem Jahr 2012 schilderte er bereits virulente Tendenzen in der jüdischen Community: Einerseits gebe es orthodoxe Communitys, die Israels Politik unterstützen, andererseits ein liberales Judentum, das zunehmend säkular orientiert sei und sich immer mehr von Israel distanziere. Diese These wird vom Politikberater Hank Sheinkopf gestützt, der seit Jahren »eine schleichende Entzweiung zwischen der Demokratischen Partei und Israel« konstatiert.
Der mächtige demokratische Mehrheitsführer im Senat, Charles Schumer, forderte in den letzten Wochen lediglich einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas und schwieg ansonsten zum Thema Israel. Von Republikanern und konservativen jüdischen Interessengruppen wird der bisher als vehementer Israel-Unterstützer bekannte Schumer laut kritisiert, weil er unter Druck von links geraten sei. Auch der Demoskop James Zogby sieht Veränderungen aufziehen: Junge Demokraten seien generell israelkritischer, und besonders Demokraten, die sich selbst als Nichtweiße betrachten, finden Gefallen an der Israelkritik, was die unbedingte Israel-Unterstützung der Demokratischen Partei immer weniger selbstverständlich erscheinen lässt.
Beinart gehört zu keiner der üblichen Gruppierungen innerhalb der amerikanisch-jüdischen Community. Er kommt nicht aus der Wiege des Brooklyn-Milieus wie Dershowitz oder Sanders. Beinart ist, religiös gesehen, orthodoxer Herkunft. Er ging nach dem Tod seines Vaters, eines südafrikanischen Juden, zweimal am Tag in die Synagoge, um das Trauergebet Kaddisch zu sprechen. Allerdings sind Beinarts Positionen zu Israel noch sehr weit von den Positionen liberaler Juden in Amerika entfernt. Spätestens damit ist er zum Renegaten geworden.
Beinart ist eine schillernde Figur, allerdings neigt er dazu, seine Thesen nicht lange beizubehalten. Prominent geworden ist er durch eine dritte Zeitschrift, die lange ein Hauptorgan der arrivierten jüdischen Intellektuellen gewesen ist: die »New Republic«, bei der Beinart von 1999 bis 2006 als Chefredakteur diente. Auch US-Außenminister Antony Blinken arbeitete in jener Zeit für diese Zeitschrift. Damals war Beinart ein Unterstützer des Irakkrieges. Als sein Buch »The Good Fight: Why Liberals, and only Liberals, Can Win the War on Terror and Make America Great Again« im Jahr 2006 vorgestellt wurde, kamen auch Bill und Hillary Clinton zur Party. Beinart sagte, dass er damals die Demokraten von ihrem »Vietnam-Syndrom« heilen und ihnen wieder das »Erbe des Liberalismus aus dem Kalten Krieg« zurückgeben wollte.
Beinart ist ein kühner Denker, der es oft in die Schlagzeilen schafft. Ob die Israelis sich von seinen Einsichten beeindrucken lassen, ist mehr als fraglich. Zu abstrakt sind seine Argumente, zu weit entfernt sind die USA von dem Kriegsgeschehen im Nahen Osten. Gerne zieht Beinart Vergleiche zur südafrikanischen Heimat seines Vaters, wie im Übrigen auch Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung Vergleiche zwischen Südafrika und Israel anstellen: etwa mit dem Hinweis, dass 1985 in Südafrika die Sicherheitskräfte trotz Erklärung des Notstandes die Kontrolle über die schwarze Bevölkerung gänzlich verloren hätten. Beinart denkt, dass die nächste Intifada, wie jener Widerstand in Südafrika, möglicherweise »nie enden wird«. Doch der Vergleich hinkt: In Südafrika sind nicht mal zehn Prozent der Bevölkerung weiß. Die Verhältnisse zwischen Juden und Palästinensern sind gänzlich andere.
Andere Positionen Beinarts sind allerdings unbestreitbar: nämlich dass US-Juden die Hauptereignisse der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert, die Shoah und den Aufbau Israels, nur aus der Entfernung und damit sehr indirekt erlebt haben. So erklärt er auch, dass sie lange den Aufbau Israels bedingungslos unterstützten. Jetzt folgt eine Pendelbewegung in die andere Richtung, auch wenn eine Kehrtwende wie bei Beinart doch die Ausnahme bleiben dürfte.
Aber aus dieser Einstellung folgt ein Novum in den USA: eine Kritik, die zwar kaum konkrete Vorschläge zur Lösung vorweisen kann, aber dennoch Druck erzeugen könnte. Etwa um einen mittleren Weg, wie die von Biden und Blinken favorisierte Zwei-Staaten-Lösung, voranzubringen. Die israelische Politikerin Tzipi Livni, die sich 2019 aus der Politik verabschieden musste, schrieb letzte Woche in der »New York Times«, dass allein die Tatsache, dass die Biden-Administration erneut eine Lanze für die Zwei-Staaten-Lösung bricht, ihre ganze Hoffnung in dieser verzweifelten Situation sei.
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