102 Tage ohne Schutz

Nicht nur in der Landwirtschaft haben Saisonkräfte keine Krankenversicherung. Kontrolle findet praktisch nicht statt

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast 200 000 Menschen waren 2007 ohne Krankenversicherung. Bis 2019 sank die Zahl auf 61 000. Dazwischen lag das entscheidende Jahr 2009: Im Januar wurde die Krankenkassenpflicht eingeführt. Jede und jeder muss seitdem krankenversichert sein, und die gesetzlichen Krankenkassen müssen Unversicherte in der Regel aufnehmen.

Doch es gibt noch immer Menschen ohne Krankenversicherung, teilweise sind sie in der offiziellen Statistik gar nicht erfasst. Das betrifft Obdachlose, die kein Hartz IV beziehen, Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus - oder Saisonarbeitskräfte, die nur für ein paar Monate nach Deutschland kommen, um beispielsweise in der Landwirtschaft zu arbeiten.

Letztgenannte Gruppe fällt unter die kurzfristig Beschäftigten. Diese können in Deutschland arbeiten, ohne dass sie selbst und die Betriebe für ihre hiesige Tätigkeit Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen, da angenommen wird, dass sie im Heimatland ihrer Haupttätigkeit nachgehen und dort auch versichert sind.

Ursprünglich wurde die Regelung für Studierende im Ferienjob geschaffen. In der Praxis nutzen sie Betriebe, die von März bis Oktober Saisonkräfte für die Ernte von Erdbeeren, Spargel, Gurken und Wein beschäftigen. Die Unternehmen sparen damit 20 bis 30 Prozent an Lohnkosten. Das gilt zwar auch für die meist osteuropäischen Beschäftigten - diese sind aber de facto in der Regel nicht anderweitig krankenversichert. Die meisten gehen in ihren Heimatländern - derzeit vor allem Rumänien - entweder keiner Arbeit nach oder verdienen dort so wenig, dass sie mit der Saisonarbeit in Deutschland ihre Familien ernähren.

Im Falle einer Krankheit sind sie also nicht abgesichert. Und können auch nicht fürs Alter vorsorgen.

Zunächst galt die Regelung für 50 Tage innerhalb eines Jahres, später für 70. Im vorigen Jahr stimmte der Bundestag einmalig einer Ausweitung auf 115, in diesem Jahr auf 102 Tage zu. Die Begründung: Die Saisonkräfte würden auf diese Weise nicht so häufig wechseln, was in Pandemiezeiten dem Gesundheitsschutz diene. Die SPD stimmte dem Gesetz erst nach einem Deal mit der CDU zu, in der sich diese dazu verpflichtete, dem Betriebsrätegesetz zuzustimmen, wie Susanne Ferschl, Vize-Fraktionsvorsitzende der Linken, in ihrer Rede bei der Abstimmung im Bundestag sagte.

Tatsächlich betrifft die Regelung noch weitere Berufsgruppen. Laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Schriftliche Frage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke gab es zum 30. September letzten Jahres 187 000 ausschließlich kurzfristig Beschäftigte. In der Landwirtschaft Tätige machten zwar mit rund 45 000 die größte Anzahl aus, das ist aber nur rund ein Viertel der kurzfristig Beschäftigten. Die meisten anderen arbeiten in der Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln und im Dienstleistungssektor wie der die Gastronomie und der Arbeitsvermittlung.

Für all jene Menschen gilt also eine Entpflichtung von der Sozialversicherung für 102 Tage. Allerdings legalerweise nur, wenn sie ihre Tätigkeit in Deutschland tatsächlich nicht berufsmäßig ausüben. Und das darf bei einem Großteil der osteuropäischen Beschäftigten bezweifelt werden.

Doch niemand prüft eingehend, ob die Erntearbeiter*innen, die Sortier*innen im Warenlager und die Beschäftigten in der Fleischindustrie tatsächlich anderweitig sozialversichert sind. Bei Arbeitsbeginn müssen sie einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie Angaben zu ihren Tätigkeiten in den letzten zwölf Monaten machen. Der Arbeitgeber entscheidet dann, ob Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden müssen. Überprüfen muss er die Angaben der Beschäftigten nicht.

Auch die Rentenversicherung, deren Aufgabe es nach dem Sozialgesetzbuch eigentlich wäre, kontrolliert die Angaben nicht. Im Protokoll einer Besprechung mit den Krankenkassen und der Bundesagentur für Arbeit von 1998 heißt es, dass über den Fragebogen hinaus »zu einem späteren Zeitpunkt (z. B. im Rahmen von Betriebsprüfungen) grundsätzlich keine erneuten Ermittlungen anzustellen sind«. Zuerst berichtete die »taz« darüber. Bundesagentur und Rentenkasse erklären gegenüber dem »nd«, dass damit lediglich eine Gleichstellung zwischen In- und Ausländern hergestellt worden sei.

Doch die Klärung, ob die Beschäftigten tatsächlich in ihrem Heimatland versichert sind, ist schwieriger als bei Inländern: Bei letzteren liegen die Daten den Kassen schließlich vor. Tatsächlich müsste jeder Einzelfall gesondert geprüft werden. Stattdessen sieht das Gesetz - wie bei allen anderen Betrieben auch - Prüfungen durch die Rentenkasse anhand der Papiere alle vier Jahre vor. Betriebsbegehungen und Befragungen gibt es nicht. Häufig werde, so eine Sprecherin der Rentenversicherung, auf den Fragebögen »Hausfrau« oder »Hausmann« angegeben. Bei Zweifeln, dass die Person über einen Partner versorgt werde, werde versucht zu prüfen, ob die Person sich den Haushalt teile.

»Das ist ein Bereich, der immer in der Grauzone war«, sagt Frank Schmidt-Hullmann, früher beim Bundesvorstand der IG BAU für Rechtspolitik zuständig, dem »nd«.

Als Alternative für die 102-Tage-Regelung hatte die Linke im Bundestag einen Antrag eingereicht, der Sozialversicherungspflicht für Saisonkräfte ab dem ersten Tag vorsieht. Er wurde abgelehnt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.