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Recht und Repression

Beschäftigte können ihre gesetzlichen Ansprüche vor Gericht einfordern. Das aber tun sie oft nicht.

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 6 Min.

Beschäftigte haben ein Recht auf Entlohnung. Dennoch arbeiten sie oft unentgeltlich. Im vorigen Jahr leisteten sie in Deutschland insgesamt 892 Millionen unbezahlte Überstunden, trotz pandemiebedingter Kurzarbeit und geschlossener Gaststätten. Menschen mit Minijobs erhalten häufig keinen bezahlten Urlaub und keine Lohnfortzahlung bei Krankheit, obwohl das gesetzlich vorgeschrieben ist. Pflegerinnen in Haushalten und andere Geringverdienende bekommen oft weniger als den gesetzlichen Mindestlohn.

Erwerbstätige können ihren Arbeitgeber verklagen, wenn er ihnen Ansprüche vorenthält. Dabei fallen Kosten an, etwa für Anwälte. Wir haben Juristen gefragt, wie hoch die Prozesskosten sind. Und: Wovon hängt es ab, ob Menschen ihre Rechte vor Gericht einfordern?

OXI - Wirtschaft anders denken

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd DIE WOCHE« beiliegt. Es liefert ökonomische Hintergründe und Analysen. Mehr über OXI gibt es hier.

Im Jahr 2019 gab es rund 320.000 Streitigkeiten zwischen Beschäftigten und Unternehmen, die vor einem Arbeitsgericht landeten und abgeschlossen wurden. Meist ging es um Kündigungen oder Lohnzahlungen. Fast immer waren es Arbeitnehmer, die klagten. Nur 0,8 Prozent aller Verfahren wurden von Unternehmen eingeleitet.

Die Prozesskosten

Vor Arbeitsgerichten gilt die Regel: Jede Seite zahlt in der ersten Instanz die eigenen Anwaltskosten, unabhängig davon, wer gewinnt. Einerseits sind für Beschäftigte dadurch die Kosten kalkulierbar, andererseits fallen in jedem Fall Kosten an – es sei denn, die Leute sind rechtsschutzversichert oder erhalten staatliche Prozesskostenhilfe. Der Berliner Fachanwalt für Arbeitsrecht Michael Loewer hat für »OXI« Beispiele für Prozesskosten überschlagen:

Angenommen, eine Arbeitnehmerin klagt gegen ihre Kündigung. Sie verdient im Monat brutto 3.000 Euro, der Streitwert beträgt dann das Dreifache, also 9.000 Euro. Das Honorar für ihre Anwältin bemisst sich laut Vergütungsgesetz RVG an diesem Streitwert. Fällt das Gericht ein Urteil, hat die Rechtsanwältin Anspruch auf 1.684 Euro. Die Gerichtskosten hängen von Einzelfall ab, das Arbeitsgericht Hamm nennt als Orientierungsgröße bei dem genannten Streitwert 490 Euro, wer wie viel zahlen muss, hängt vom Ausgang des Verfahrens ab.

Endet der Streit mit einem Vergleich und einer Abfindung, was häufig vorkommt, kann die Anwältin der Klägerin 2348 Euro in Rechnung stellen. Das Honorar ist hier höher als bei einem Gerichtsurteil. Das sei eine Art Belohnung dafür, dass der Konflikt schnell beigelegt und die Justiz entlastet wurde, erläutert Loewer. Dafür fallen bei einem erstinstanzlichen Vergleich vor einem Arbeitsgericht keine Gerichtskosten an.

Wenn der Kündigungsstreit in die zweite Instanz vor ein Landesarbeitsgericht geht und die Klägerin gewinnt, bleibt es bei den 1.684 Euro, die sie aufzubringen hat. Verliert sie, summieren sich die Kosten für den eigenen und gegnerischen Rechtsbeistand sowie fürs Gericht auf mindestens 5.384 Euro.

Die Prozesskosten können ein Grund dafür sein, dass Erwerbstätige ihre Rechte nicht einklagen. Allerdings sind sie meist nicht die entscheidende Hürde, betonen Juristen wie der Professor für Arbeitsrecht Wolfgang Däubler, der öfter Gewerkschaften und Beschäftigte juristisch berät. Er verweist darauf, dass Gewerkschaftsmitglieder Rechtsschutz haben. Beschäftigte können überdies eine eigene Rechtsschutzversicherung abschließen. Laut »Finanztest« gibt es gute Policen, die um die 250 Euro im Jahr kosten, bei einem Selbstbehalt von 150 Euro. Arme Menschen haben Anspruch auf staatliche Prozesskostenhilfe.

Ob Klagende Prozesskostenhilfe erhalten, wird oft erst zu Beginn des Verfahrens vom Gericht entschieden. Man sollte deshalb vorher mit seinem Anwalt besprechen, ob er das volle Honorar verlangt, wenn der Antrag abgelehnt wird, rät Loewer.
Umgekehrt ist es hilfreich, wenn man über viel Geld verfügt. So können sich beispielsweise finanzstarke Unternehmen durch Großkanzleien vertreten lassen und mit ihnen Stundenhonorare vereinbaren, die höher sind, als das Vergütungsgesetz vorsieht, erläutert die Anwältin und Arbeitsrechtsprofessorin Marlene Schmidt. Dann können sie sich viel Zeit für die Prozessvorbereitung nehmen, was die Erfolgsaussichten verbessern kann.

Das Job-Risiko

Was Beschäftigte oft abschreckt, liegt indes jenseits der Prozesskosten. Viele fürchten, einen anderen Preis zahlen zu müssen, wenn sie ihr Unternehmen verklagen. »In erster Linie wollen sie ihr Arbeitsverhältnis nicht gefährden«, sagt Däubler. Wenn Menschen ihre Weiterbeschäftigung erzwängen, riskierten sie, schlecht behandelt zu werden, keine interessanten Aufgaben mehr zu erhalten oder nicht befördert zu werden. »Das ist Erfahrungswissen, eine Kausalität ist meist nicht nachweisbar«, sagt Däubler.

»Die Arbeitgeberseite hat so viele Repressionsmöglichkeiten, dass Beschäftigte das Risiko oft nicht eingehen«, betont auch Manfred Weiss, emeritierter Arbeitsrechtsprofessor in Frankfurt am Main. »Je weiter unten die Arbeitnehmer in der Hierarchie sind, desto größer ist die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das sind gerade diejenigen, die am dringendsten Hilfe bräuchten.« Gerichte seien darum nur bedingt ein Mechanismus, um Arbeitnehmerrechte durchzusetzen.

Auch die Prozesspraxis zeigt: Wer im Betrieb bleiben will, klagt seine Ansprüche seltener ein. Wer ohnehin gehen will oder soll, tut dies eher. Generell finde ein Großteil der Verfahren zum Ende eines Arbeitsverhältnisses statt, erläutert Joachim Vetter, Präsident des Landesarbeitsgerichts Nürnberg, der viele Jahre Vorsitzender des Bundes der Richterinnen und Richter an Arbeitsgerichten war. So würden auch Lohnansprüche eher nach einer Kündigung eingefordert. »Dann klagen Beschäftigte öfter auch kleinere Beträge ein, wenn etwa Überstunden nicht bezahlt wurden.«

Am häufigsten wird vor Gericht ohnehin über die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses gestritten, über Kündigungen oder auch Befristungen. In den meisten Fällen ende das Verfahren mit einem Vergleich, man verständige sich in der Regel auf eine Abfindung, erläutert Vetter. Das heißt: In über 90 Prozent der Fälle kehren die Beschäftigten nicht in den Betrieb zurück, erläutert Till Bender, Jurist und Pressesprecher des DGB-Rechtsschutzes.

Nur selten bestehen die Klagenden auf ein Urteil darüber, ob die Kündigung wirksam war. Denn ein langer Prozess sei für die Menschen belastend, sagt Bender. Schließlich gehe es um ihre finanzielle Existenzgrundlage und um ihr soziales Umfeld. Wenn sie verlieren, ist der Job weg und sie müssen sich nach Monaten Rechtsstreit einen neuen suchen. Wenn sie gewinnen, ist zwar geklärt, dass sich das Unternehmen nicht an das Gesetz gehalten hat. Dennoch kann es den Beschäftigten das Weiterarbeiten schwer machen.

Man sollte sich gut überlegen, ob man während eines Arbeitsverhältnisses seine Ansprüche einfordert, betont Loewer. Generell ausschließen sollte man es nicht. Zwar heißt es häufig, dass Beschäftigte mit einer Klage das Arbeitsverhältnis belasten. »Zuerst belasten aber Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis, wenn sie beispielsweise den Menschen Lohnansprüche vorenthalten.«

Dass Unternehmen höchst selten Angestellte verklagen, findet Däubler logisch: »Der Arbeitgeber muss nicht klagen, er kürzt einfach den Lohn, wenn beispielsweise Beschäftigte das zugewiesene Arbeitspensum nicht erledigen. Oder er mahnt sie ab. Und wenn das nichts nützt, kündigt er.« Beschäftigte können dem Chef hingegen keine Aufgaben zuweisen und ihn nicht entlassen, auch nicht bei eklatantem Fehlverhalten. »Die Klage von Beschäftigten ist darum ein Mittel, um die Herrschaft der Eigentümer zu beschränken.«
Wer im Betrieb bleiben will, klagt seine Ansprüche seltener ein. Wer ohnehin gehen will oder soll, tut dies eher.

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