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Haltelinien und Wendepunkte

Wie die Linkspartei das Land in Bewegung bringen sollte - ein Zwischenruf zur Wahlkampfstrategie

  • Nicole Gohlke, Norbert Müller, Jana Seppelt
  • Lesedauer: 7 Min.

Jede Genoss*in kennt sie. Wendepunkte, die die politische Entwicklung entscheidend prägen, Erfahrungen, die uns zwingen das Denken neu zu sortieren. Es sind Momente, an denen wir unsere Strategien und Optionen prüfen und uns in den drängenden Fragen der Zeit verorten.

Solche Wendepunkte beschäftigen uns noch Jahre danach. Der Angriff auf den Kosovo und der erste Kriegseinsatz seit 1945. Die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze und die neue Partei Die Linke. Oder: die globale Finanzkrise und die Niederlage der Linkspartei Syriza in Griechenland. Heute zeichnen sich in der kräftezehrenden Pandemie neue gesellschaftliche Wendepunkte ab.

Die Autor*innen

Nicole Gohlke ist seit 2009 Bundestagsabgeordnete und hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Norbert Müller seit 2014 im Bundestag, ist kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Linksfraktion. Jana Seppelt ist Gewerkschaftssekretärin u. a. für Hochschulen bei Verdi Berlin-Brandenburg und wurde im Februar 2021 zu einer der sechs stellvertretenden Linke-Vorsitzenden gewählt.

Kräfte für einen linken Aufbruch

Am Ende der Ära Merkel geraten die Verhältnisse - begleitet vom mulmigen Gefühl einer verlorenen Zeit - langsam ins Rutschen. Viele spüren, dass es so nicht weitergehen kann - aber noch sind die gesellschaftlichen Kräfte für einen sozialen und ökologischen Aufbruch nicht da. Doch die Bundestagswahl markiert für viele einen Wendepunkt, eine Entscheidung zwischen Alt und Neu. Für das Alte stehen die Unionsparteien und die SPD. Die Grünen inszenieren sich als frische Alternative - mit einem recht wolkigen Programm, das mehr Klimaschutz, mehr Investitionen, mehr Gerechtigkeit und Demokratie verspricht. Zugleich wenden sich prominente Grüne wie Robert Habeck gegen einen bundesweiten Mietendeckel und kuscheln mit Industriekonzernen.

Veränderung im Interesse der Mehrheit braucht Menschen, die bereit sind, sich zu bewegen. Nur die Kraft vieler Menschen, die gemeinsam für ein Ziel arbeiten, kann etwas bewegen. Für uns steht daher die Frage im Mittelpunkt, wo sich gesellschaftliche Wendepunkte zuspitzen und wo wir dazu beitragen können, die Kräfte für einen linken Aufbruch zu bilden.

Reichtum umverteilen: In der Pandemie wurde geklatscht, aber an den Löhnen hat sich kaum etwas geändert. Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. Notwendig sind höhere Löhnen und sichere statt prekärer Arbeit. Ohne eine Besteuerung der Millionäre gibt es keinen Politikwechsel. Ohne eine Vermögenssteuer lassen sich die notwendigen Investitionen in bezahlbares Wohnen, Bildungsgerechtigkeit und Klimaschutz nicht gerecht finanzieren.

Aufstehen für die Pflege! Statt warmer Worte brauchen die Kolleg*innen endlich mehr Personal und Entlastung. Viele wollen nicht länger hinnehmen, dass die Pandemie auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Konzerninteressen haben in der Gesundheitsversorgung nichts zu suchen. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen gehören wieder in öffentliche Hand, die Fallpauschalen abgeschafft. Es braucht ein Sofortprogramm für mehr Personal und höhere Löhne.

Mieten deckeln! Der gekippte Mietendeckel in Berlin hat die Karten neu gemischt. Die Bundestagswahl wird jetzt zu einer Abstimmung über bezahlbaren Wohnraum. Wir sind Teil einer Bewegung, die die Mietenexplosion stoppt und Wohnen für alle bezahlbar macht: mit einem bundesweiten Mietenstopp und -deckel. Wir wollen Investitionen in öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbau statt in Luxus-Appartments.

Klima retten! Wir brauchen einen Aufstand gegen die Politik der verlorenen Zeit, die Klimagerechtigkeit in eine ferne Zukunft verschiebt. Zusammen mit Verdi und Fridays For Future u. a. begreifen wir die Wahlen als Abstimmung über das Klima. Gemeinsam wollen wir bis 2035 eine klimaneutrale Wirtschaft durchsetzen, die sinnvolle und gut bezahlte Arbeit und eine funktionierende soziale Infrastruktur für alle schafft.

Solidarität ist unteilbar! Eine stärker werdende antirassistische Bewegung wendet sich gegen strukturellen Rassismus, Polizeigewalt und Diskriminierung. Diese lassen sich nicht durch bessere Gesetze allein beseitigen. Aber bei der Bundestagswahl geht es auch darum, ob wir Schritte durchsetzen in Richtung Bleiberecht und gleicher sozialer Rechte für alle, die hier leben.

Wendepunkte sind nicht einfach ausgedacht. Es sind legitime Erwartungen, Ansprüche auf ein glückliches und gesundes Leben. Sie haben bereits in sozialen Bewegungen einen Ausdruck gefunden. Nun geht es um die Durchsetzung. Wir als Die Linke können diese Ansprüche bündeln und Druck machen. Aber die Durchsetzung hängt an jeder und jedem Einzelnen von uns. Sie lässt sich nicht delegieren, sondern nur organisiert erkämpfen.

Das Mögliche und das Nötige

Wir schlagen eine Konzentration der Linkspartei auf die Wendepunkte vor und werben für einen Wahlkampf, der alle Kraft auf diese bündelt. Wir stellen uns Haustürgespräche, Stadtteilkundgebungen und Betriebstouren, Flashmobs vor den Unis und Schulen vor. Mit einer klaren Botschaft vor: Werde Teil des Aufbruchs.

Wir sollten ausstrahlen: Wirkliche Veränderung und etwas wirklich Neues - das gute Leben für alle - gibt es nur mit links. Viele Menschen wollen und können ja nicht länger auf Veränderungen warten. 96 Prozent unserer Wähler*innen wollen uns einer Umfrage zufolge in einer Regierung sehen. Gerade in relevanten Teilen von Gewerkschaften und Bewegungen gilt Grün-Rot-Rot als Hoffnungsprojekt oder zumindest als beste zur Verfügung stehende Option.

Einfach auf Opposition zu setzen ist keine Lösung, wenn relevante Teile der Gesellschaft, der Wähler*innen und der Bewegungen sich eine progressive Regierung wünschen. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass wir zur leicht erpressbaren Juniorpartnerin in einer grün geführten Modernisierungskoalition werden. Denn von den Grünen sind derzeit weder Schritte für entschlossene Umverteilung noch eine Politik für gute Arbeit, bezahlbares Wohnen und eine verlässliche soziale Absicherung zu erwarten. In Baden-Württemberg und Hessen haben sie weder den Klimaschutz vorangebracht noch etwas für bessere Arbeitsverhältnisse und Löhne unternommen.

Es ist zu befürchten, dass die Politik der verlorenen Zeit nach der Wahl fortgesetzt wird und außer Elektroautos und höheren CO2-Steuern von der Klimawende wenig übrig bleibt. Und, dass es in Folge der Corona-Krise unter Beteiligung der Grünen erneut zu einer Auseinandersetzung um den Sozialstaat kommt.

Notwendig wäre etwas anderes. Ein grundlegender Richtungswechsel - eine wirkliche Wende hin zu sozialer Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, unteilbarer Solidarität und konsequenter Friedenspolitik. Wie können wir die Lücke zwischen dem Möglichen und Nötigen schließen?

Unser Maßstab für linkes, ja rebellisches Regieren - wie für eine starke linke Opposition - ist eine Politik, die soziale Kämpfe von unten, Klassenorganisierung und Solidarität der Vielen stark macht. Als Linkspartei sollten wir im Wahlkampf praktisch erfahrbar machen, dass wir die Bündnispartei für unteilbare Solidarität sind: wir unterstützen Proteste der Mieter*innen und gewerkschaftliche Kämpfe, Geflüchteten-Initiativen und antirassistische Bewegungen, Black Lives Matter, die feministische und Klimabewegung.

Wünsche nach der Merkel-Ära

Es reicht nicht aus, von »neuen linken Mehrheiten« oder »einer progressiven Regierung« zu sprechen, ohne konkrete Ziele und Bedingungen zu formulieren. Oder sich eine linke Regierung mit diesen Grünen und dieser SPD zu erträumen, ohne einen Plan zu haben, wie Eingriffe in privatisierte Krankenhäuser oder große Immobilienkonzerne dann durchgesetzt werden. Es geht uns nicht darum, jetzt Koalitionsverhandlungen zu simulieren. Die Schritte, um die es sich im Falle einer Regierungsbeteiligung zu kämpfen lohnt und die wir mindestens durchsetzen wollen, müssen aber offen und klar benannt werden. Es geht uns um eine Verständigung, wofür Die Linke geschlossen, entschlossen und unverrückbar steht.

Die roten Haltelinien aus dem Erfurter Programm gelten dabei weiter. An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung vorantreibt, Privatisierungen oder Sozialabbau betreibt, werden wir uns nicht beteiligen. Die Haltelinien sollen verhindern, dass eine mögliche Regierungsbeteiligung zu Verschlechterungen führt. Aber sie kitzeln nicht die Wünsche und Träume der Menschen, die sich nach der Ära Merkel einen Aufbruch und spürbare Veränderung wünschen. Sie spitzen nicht die existierenden Erwartungen politisch zu. Die Haltelinien sollten daher durch offensive Wendepunkte ergänzt werden, mit denen wir im Wahlkampf mobilisieren, gesellschaftliche Kräfte bündeln und mittelfristig Die Linke stärken und verankern können.

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Jetzt geht es um »Butter bei die Fische«. Was wir vorschlagen sind große Schritte - wie der Mietenstopp, die Klimawende zusammen mit den Beschäftigten, die Abschaffung der Fallpauschalen und Krankenhäuser in öffentlichem Eigentum. Sie sind dringlich und machbar. Sie sind gerecht finanzierbar. Sie gelten verbindlich vor und nach der Wahl. Wir sollten selbstbewusst die Wendepunkte stark machen, die wir in einer möglichen linken Regierungsbeteiligung zusammen mit Bewegungen und Gewerkschaften durchsetzen wollen.

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