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»Nicht nur Armut verwalten«

Für Jonas Löwenberg ist klar, dass bei Fragen der Gesundheit auch immer soziale Ungleichheit mitspielt

  • Interview: Lisa Kuner / Foto: Anna Perepechai
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein geräumiges Vorzimmer, von dem man durch eine Glasscheibe in die Küche schauen kann, ein paar Beratungsräume und eine einzelne Liege - die Poliklinik des Vereins Solidarisches Gesundheitszentrum im Osten von Leipzig hat auf den ersten Blick wenig gemein mit Arztpraxen oder Krankenhäusern. Hier treffe ich den 28-jährigen Sozialarbeiter Jonas Löwenberg.

Es sieht hier gar nicht medizinisch aus.

Interview

Jonas Löwenberg ist Sozialarbeiter und 28 Jahre alt. Er stammt aus dem Ruhrgebiet, zog aber vor sechs Jahren fürs Studium nach Leipzig. 2018 gründete er dort die Poliklinik des Vereins Solidarisches Gesundheitszentrum mit. Außerdem ist er in Gremien des bundesweiten Poliklinik-Syndikats aktiv. Im Interview erklärt er, was Gesundheit mit der Herkunft zu tun hat, warum Sozialarbeit mehr sein sollte als das Verwalten von Armut und welche persönlichen Erfahrungen er damit gemacht hat.

(lacht)

Ich finde Artpraxen oder Krankenhäuser fürchterlich abschreckend und will da am liebsten wieder rückwärts rausgehen. Da fühlt man sich nicht wohl. Das wollen wir bei uns nicht.

Was genau machen Sie hier in der Poliklinik?

Der Name Poliklinik greift schon vorweg, was hier mal entstehen soll. Noch behandeln und therapieren wir nicht. Bisher bieten wir - Ärzt*innen, Pflegekräfte, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen - Beratungs- und Präventionsarbeit auf einem niedrigschwelligen Level an.

Anders als im normalen Gesundheitssystem?

Wir verfolgen einen ganzheitlichen Ansatz, bringen verschiedene Professionen zusammen und orientieren uns an den Menschen, ihren Bedürfnissen und Problemen. Und nicht an der Frage, mit welcher Behandlung sich das meiste Geld verdienen lässt. Gesundheit darf nicht verkauft werden.

Polikliniken gab es ja auch in der DDR. Was haben Sie sich abgeschaut?

Gemeinsam haben wir, dass die DDR-Polikliniken regional eine breite medizinische Versorgung angeboten haben. Und dass da nicht so die Geld-Maschine dahinterstand.

Und was wollen Sie anders machen?

In der DDR waren Polikliniken rein medizinische Institutionen. Es gab eine hohe Fluktuation von Ärtzt*innen. Wir wollen hier auch Beziehungen aufbauen und Nachbar*innen einbinden. Wir sind mehr als ein Versorgungszentrum.

Sie sind im Westen aufgewachsen. Inwiefern ist das Gesundheitssystem da anders?

Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da sind Strukturschwäche und Perspektivlosigkeit ebenfalls sehr präsent. In Westdeutschland ist der Gedanke »Du bist alleine für deine Gesundheit verantwortlich« aber deutlich mehr in den Köpfen als hier. Dort fehlt die Erfahrung, dass sich das Gesundheitssystem auch anders organisieren lässt.

Erst im vergangenen Jahr hat die Poliklinik ihre Räume bezogen und erste Angebote gestartet. Wie hat sich die Pandemie auf das Projekt ausgewirkt?

Wir wollten Gruppenberatungen und Infoveranstaltungen anbieten und den Raum für Menschen im Stadtteil öffnen. Das hat wegen Corona natürlich kaum funktioniert. Wir sind dann auf Telefon- und E-Mail-Beratung umgeschwenkt. Jetzt hoffen wir, dass mit Impfungen und sinkenden Infektionszahlen bald mehr möglich ist und wir den Raum für die Nachbarschaft öffnen können.

In was für einer Nachbarschaft sind wir denn hier?

Wir sind in Leipzig-Schönefeld. Hier wohnen ungefähr 23 000 Menschen, und das ist sehr durchmischt: Auf der einen Seite gibt es den schicken Altbau aus der Gründerzeit und auf der anderen die großen DDR-Platten. Die eine Seite wird nun immer gentrifizierter, doch wir haben auch einen relativ hohen Anteil an Menschen mit Migrationserfahrungen, Menschen, die Sozialleistungen beziehen, und einen hohen Anteil an Jugendarmut. Es gibt auch relativ viele AfD-Wähler*innen. Langsam ziehen jedoch auch mehr junge Menschen hierher, um die Eisenbahnstraße herum wird der Wohnraum immer knapper und teurer.

Ist eure Arbeit ehrenamtlich?

Jein. (lacht) Der Großteil der Arbeit in der Poliklinik läuft ehrenamtlich, alle Beratungen zum Beispiel. Mittlerweile haben wir aber auch einige wenige Stellen; eine davon habe ich.

Sie haben die Poliklinik mitgegründet. Woher kam Ihr Interesse an Gesundheitsarbeit?

Gesundheit fand ich eigentlich nie besonders spannend und reizvoll. Ich habe damit immer eher ein bevormundendes »Ernähr dich gut und hör auf zu rauchen« verbunden. War ein bisschen Zufall, dass ich dazu gekommen bin. Ich fand das Projekt vor allem aus einer politischen Perspektive spannend: Wie soll unsere Stadt aussehen? Mein Studium fand ich eher demotivierend.

Warum?

Oft ist soziale Arbeit hauptsächlich das Verwalten von Armut: ein bisschen mehr vom Hartz, einen Job vermitteln. Der einzelnen Person geht’s dann vielleicht ein bisschen besser - und ich kümmere mich um die nächste. Aber das löst keine Probleme: Armut besteht weiter, Hartz IV besteht weiter und schlechte Wohnbedingungen auch.

Was hatte das dann mit der Poliklinik zu tun?

Ich fand den Ansatz spannend, in einen Stadtteil zu gehen und etwas Langfristiges zu etablieren, das an den individuellen und praktischen Problemen von Menschen ansetzt, aber auch höhere Ebenen adressiert. Das gab den Ausschlag, mich in der Poliklinik einzubringen, auch wenn ich bis dahin mit Gesundheit nichts zu hatte. Am Anfang war ich auch der einzige Sozialarbeiter.

Welche Rolle sollten Sozialarbeiter*innen im Kontext von Gesundheit spielen?

Mein Verständnis von emanzipatorischer sozialer Arbeit ist, soziale Ungleichheit wirklich zu bekämpfen. Ungleichheit hat einen großen Einfluss auf Gesundheit. Das liegt an sozialen, strukturellen Faktoren wie Wohnraum, Arbeitsbedingungen, Umfeld und Klima. Hinzu kommen individuelle, wie Gender oder Alter. Menschen der unteren Einkommensschichten sterben bis zu acht Jahre früher als Menschen mit den höchsten Einkommen. Das ist also nicht ein bisschen ein schlechteres Leben - die Menschen sterben wirklich früher.

Gibt es dafür auch konkrete Beispiele aus Ihrer Arbeit hier?

Wir hatten einen Fall, in dem eine Person zu uns kam, der es psychisch nicht gut ging. Natürlich brauchte die Person eine Beratung und Behandlung für ihre psychischen Struggles, doch uns wurde schnell klar, dass dahinter auch soziale Faktoren steckten. Die Person bezieht Sozialhilfe, die Wohnung ist schlecht, und die Kinder machen in der Schule Probleme. Solange die Person nur auf der psychischen Ebene beraten wird, löst das ihre Probleme nicht. Das wollen wir verbinden.

Sagen Sie das auch aus persönlicher Erfahrung?

Nicht direkt, aber im Vergleich zu anderen merke ich manchmal, dass ich da möglicherweise mehr Bezugspunkte habe. Zum Beispiel, wie meine Mutter in meiner Kindheit gekocht hat. Da war der Aspekt gesunde Ernährung nicht so präsent. Das lag an Faktoren wie: Wie viel Geld steht eigentlich zu Verfügung? Was kann man davon kochen? Und wie viel Zeit hat man dafür? Oder wie viel muss man als Alleinerziehende arbeiten? Außerdem merke ich auch jetzt, obwohl ich arbeite, dass das Geld für Wohnungen knapp ist. Total absurd, dass ich so selbst vor den Problemen stehe, die ich als Sozialarbeiter lösen soll.

Wie gehen Sie damit um?

Ich hoffe, dass wir solche Punkte wie Gentrifizierung als Initiativen in Zusammenarbeit mit anderen bremsen können und die strukturellen Verhältnisse von allen verbessern.

Seit Corona wird deutlich mehr über Gesundheit gesprochen. Finden Sie das gut?

Ja. Es wird auch immer mehr die Profitlogik im Gesundheitssystem infrage gestellt. Es wird auch darauf hingewiesen, dass sich in weniger reichen Stadtteilen mehr Menschen mit Corona infizieren. Allerdings wird so getan, als seien das neue Erkenntnisse. Doch die Weltgesundheitsorganisation hat das schon in den 70er Jahren beschrieben, und im System tut sich wenig.

Und deswegen ändern Sie das jetzt selbst?

Ja, zu einem gewissen Teil auf jeden Fall. Wir können nicht darauf warten, bis das mal jemand anders macht, und versuchen das jetzt selbst umzusetzen.

Strukturelle Veränderungen umzusetzen ist ein langsamer Prozess. Resignieren Sie da auch manchmal?

Klar, wenn man stundenlang versucht, Leuten hinterherzutelefonieren, um irgendwo Geld herzubekommen, um aus unseren eigenen prekären Arbeitsbedingungen rauszukommen. Da frage ich mich schon: Wie lange halte ich das so durch?

Was bringt Sie in solchen Situationen auf andere Gedanken?

Rausfahren aus Leipzig, das nonstop klingelnde Handy und Laptop zu Hause lassen. In letzter Zeit war das schwierig, das hat schon ein bisschen an meiner Substanz genagt. Aber jetzt geht das zum Glück wieder ein bisschen besser.

Auf welchen Teil Ihrer Arbeit sind Sie stolz?

Darauf, dass wir aus dem Nichts eine kollektive Struktur aufgebaut haben. Wir haben eigene Räume und können uns finanzieren.

Wie sieht das perfekte Gesundheitssystem aus?

Es gibt in jedem Stadtteil und auf dem Land Gesundheitszentren - und das führt dann dazu, dass Menschen die Gesundheitsversorgung kaum noch in Anspruch nehmen müssen.

Danke für das Gespräch.
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