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Zäune im Kopf

Jugendliche und die Polizei: In Stuttgart hat es wieder geknallt. Das eigentliche Problem ist eine provinzielle Politik

  • Elena Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Sonne knallt. Die Endorphine kicken. Am Stuttgarter Schlossplatz wuselt der menschliche Ameisenhaufen in beide Richtungen auf der Shoppingmeile Königstraße, schwingt Einkaufs- und Aktentaschen. Sitzgelegenheiten gibt es hier schon lange kaum noch. Die Leute sollen konsumieren und nicht in der Gegend herumsitzen. Wer an diesem sonnigen Mittwochnachmittag vor Fronleichnam endlich Feierabend hat und nicht einkaufen ist, genießt den ausklingenden Sommertag fröhlich quäkend und heimlich Dosenbier trinkend im Park am Rande der Königstraße. Oder, wie die beiden Kumpels Gökhan und Emre, gegenüber auf der Freitreppe neben dem Kunstmuseum - dem Ort, an dem es am Wochenende knallte, weil die Polizei es für eine clevere Idee hielt, 500 Jugendliche beim nächtlichen Abhängen auf das Alkoholverbot und die Corona-Regeln hinzuweisen und sie aufzufordern, den öffentlichen Raum zu verlassen. Die Situation eskalierte. Flaschen flogen. Pfefferspray zischte. Sechs Festnahmen und die Räumung waren das Ergebnis.

»Wir sind eigentlich immer hier und waren an dem Abend auch an der Treppe«, sagt Emre. Als ihm und Gökhan klar wurde, dass die Lage eskaliert, haben sie sich verdrückt. »Wenn es Stress gibt, gehen wir einfach, weil wir nichts mit dem Gericht zu tun haben wollen«, erzählt Emre, der eine Ausbildung »beim Daimler« macht. »Außerdem muss ich auf meinen Hund aufpassen, nicht, dass ihr was passiert«, ergänzt Gökhan, der wie Emre Mitte zwanzig ist und seiner Hündin den Kopf tätschelt.

Dass die jüngeren Jugendlichen, die sich hier abends treffen, trinken und abhängen aggressiv werden, wenn die Polizei anrückt, können Gökhan und Emre verstehen - dass manche auf Einsatzkräfte losgehen, nicht. »Ich würde die Polizei nie in Schutz nehmen«, sagt Emre. »Aber Flaschen werfen geht gar nicht. Die machen auch nur ihren Job.« Das sieht Gökhan, der bei einem Sicherheitsdienst arbeitet, auch so. Auch wenn sich beide einig sind, dass man sich nicht wundern brauche, wenn die Jugendlichen mit der Polizei aneinandergeraten. »Viele Polizisten sind einfach herablassend und dann stellen sie irgendeinen Jugendlichen vor seinen Jungs bloß und das lässt sich dann auch keiner gefallen«, sagt Emre. Dass die Treppe am gleichen Tag um 20 Uhr von der Polizei bis auf weiteres jedes Wochenende abgesperrt wird, um weitere Ausschreitungen zu verhindern, wissen die beiden noch nicht.

Auch in Städten wie Tübingen, Heidelberg und Hamburg kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jungen, meist migrantischen Jugendlichen und der Polizei. Die Politik ist überfordert. Die Polizei geriert sich als Opfer. Die mediale Berichterstattung geht selten über paraphrasierte Pressemitteilungen der Polizei hinaus. Der Tenor: Die Jugendlichen sind das Problem. So bekundete Frank Nopper (CDU), der neue Oberbürgermeister Stuttgarts, der die vergangenen 20 Jahre Schultes in der 30 Kilometer entfernten, schwäbischen Vorstadt Backnang war, in der »Stuttgarter Zeitung« sein höchstes Bedauern über die »Tätlichkeiten, Sachbeschädigungen und Beleidigungen von Polizeibeamten«, die »durch nichts zu rechtfertigen« seien. »Unser Dank gilt der Polizei für ihren entschlossenen und besonnenen Einsatz«. Nopper war im vergangenen Jahr mit dem Slogan »Schaffen statt Gendern« in den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt gezogen. Diskriminierende Strukturen in der Sprache blendet Nopper offenbar ebenso aus wie strukturellen Rassismus in Gesellschaft und Polizei.

»Das Problem sind nicht die Jugendlichen, sondern die strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung von Migrant*innen, Schwarzen Jugendlichen und People of Color, die schon vor Corona stattgefunden hat. Diese Probleme gehen nicht weg, wenn man eine Treppe absperrt«, sagt hingegen der linke Stuttgarter Stadtrat Luigi Pantisano. Für ihn ist klar: »Die Polizei sieht in der Coronazeit ihre Chance umzusetzen, was sie sich schon immer gewünscht hat: Alkoholverbote, Videoüberwachung und massive Präsenz.«

Als Sohn italienischer Eltern weiß Pantisano, wovon er spricht: »Wenn du Luigi heißt, 18 Jahre alt bist, dunkle Haare und Bart hast und auf einer Parkbank sitzt, dann dauert es keine fünf Minuten, bis dich grundlos irgendwelche Polizist*innen ansprechen und dann bist du per se schon sauer«, sagt der 41-jährige Stadtplaner. Als Mensch mit offensichtlicher Migrationsgeschichte gehe man mit einer ganz anderen Mindmap durch die Stadt. Die Polizei picke sich immer die Orte heraus, »von denen sie genau weiß, welche Gruppe da unterwegs ist. Mit denen können sie dann machen, was sie wollen, weil die Gruppe kaum Rückhalt in der Gesellschaft hat«, so Pantisano.

Aus der komplexen Verzahnung aus Corona-Einschränkungen, struktureller Diskriminierung, Rassismus, öffentlichem Raum und Polizeiarbeit ergeben sich Stressoren, die für Politiker wie den durch die heile Vorstadtwelt geprägten Nopper nicht existent sind. Sein Horizont wird definiert durch die eigene autochthone, privilegierte Lebenswelt.

Auch Noppers Kollege, Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler), sieht das Problem nur von der Seite, aus der Pfefferspray geschossen wird. Dass Innenminister Thomas Strobl (CDU) dazu in zahlreichen Medien von mehr Videoüberwachung auf dem Schlossplatz fantasiert, komplettiert die Symbolpolitik einer provinziellen Großstadt, die mit soziokulturellen Entwicklungen politisch überfordert ist. Das Problem sind »die Störenfriede«. Nicht etwa die Kapitulation der CDU vor den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft.

Eine Woche vor der Gewalteskalation in der Königstraße vergangenen Jahres hatte Strobel veranlasst, die Disziplinarstatistik des Landes Baden-Württemberg untersuchen zu lassen, um den »Generalverdacht, dass die Polizei ein strukturelles Rassismus- oder Diskriminierungsproblem habe, nicht im Raum stehen« zu lassen. Und siehe da: »Unsere Landespolizei hat kein strukturelles Rassismus- oder Diskriminierungsproblem«, erklärt Strobel anschließend. Seit dem 1. Januar 2015 habe es 163 Beschwerden über diskriminierendes Verhalten gegeben. Lediglich in rund fünf Prozent der eingereichten Beschwerden habe sich der Verdacht auf eine diskriminierende Verhaltensweise der Landespolizei bestätigt. Dass die Auswertung von der Polizei selbst durchgeführt wurde und Menschen, die von der Polizei jeden Tag durch Racial Profiling diskriminiert werden, keinen Sinn darin sehen, Beschwerden bei eben dieser Institution einzureichen, die sie diskriminiert, ist kein Problem für Strobel - der damit Teil des Problems ist.

Mittlerweile ist es Abend. Gökhan und Emre sitzen wie rund 50 andere Leute kurz vor der Räumung immer noch auf der Freitreppe in der untergehenden Sonne und chillen, während kurz vor 20 Uhr immer mehr blauen Uniformen aus der bunten Menge in der Einkaufsstraße hervorstechen. »Da kommen sie wieder«, sagt Emre und verdreht ein bisschen die Augen. Doch die Polizeitrupps, die seit Monaten Brennpunkte in der Stadt aufsuchen, um die Corona-Regeln im öffentlichen Raum durchzusetzen, stehen dieses Mal nur am Rand. Um die Treppe vor TV-Kameras und dem Ordnungsbürgermeister zu räumen, sprechen zwei Beamte in gelben Warnwesten mit der Aufschrift »Anti-Konflikt-Team« freundlich mit den verdutzten Menschen und bitten auch Gökhan und Emre in gebückter Haltung, die Freitreppe zu verlassen - streng beobachtet von den ausdruckslosen Gesichtern der Kollegen. Während die Gute-Laune-Polizei die Leute von der Treppe grinst, saust ein Lastwagen mit Baustellenzäunen herbei und in 15 Minuten ist die Treppe dicht.

Am Wochenende nach der Treppensperrung war es ruhig in der Stadt - was die »Stuttgarter Nachrichten« nicht davon abhielt, Gastronomen neben der Freitreppe auf der Suche nach Skandalen zu interviewen, um dann herauszufinden, dass irgendjemand Sonnenschirme und Tische kaputt gemacht habe. Wahrscheinlich Jugendliche.

Wenn alle Stricke reißen, hat die Stadt laut Oberbürgermeister Nopper noch einen Joker im Anti-Konflikt-Ärmel, damit endlich Ruhe im Kessel ist: »Sport um Mitternacht«. Kein Witz.

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