Das war es dann

Der Autor der Sonntagsschuss-Kolumne verabschiedet sich vom nd - und ignoriert dabei wie immer jede Aktualität

Einen wunderschönen Tag Ihnen. Ich hoffe, Sie haben zumindest einige der bisherigen sieben EM-Spiele sehen können. Ab kommendem Montag werden sie darüber auch an dieser Stelle lesen können. Aus zwei Gründen. Einem, der noch nachzutragen sein wird. Und dem, dass der hochgeschätzte Kollege Jirka Grahl sich im Gegensatz zu mir nicht nur für die Spiele interessiert, sondern auch vor Ort ist und uns bislang schon so manchen höchst vergnüglichen Text aus Osteuropa zu lesen gab.

Ich treibe derweil anthropologische Studien am badischen Mitmenschen. Im EM-Fieber scheint der bislang noch nicht so richtig zu sein. Als ich im Freibad meines Herzens am Samstag erstmals eine schwarz-rot-gelbe Fahne hinter den braungebrannten Skat-Rentnern in der Nähe des Volleyballfeldes sah, wurde mir zum ersten Mal klar, dass das Turnier ja bereits angefangen hatte. Die drei waren übrigens so ziemlich die einzigen im Bad, die das 15. Lebensjahr überschritten hatten und nicht tätowiert waren. Statt dem mitgebrachten Buch kann man im Sommer deswegen auch prima Haut lesen.

Sonntagsschuss
Christoph Ruf, Fußballfan und -experte, schreibt immer montags über Ballsport und Business.

Wobei das schnell langweilig werden kann: Auf jedem zweiten Tattoo steht das Gleiche wie es aus deutschem Hip Hop und anderen Schnulzen heraussülzt: Wie wichtig es doch sei, seinen »Weg zu gehen« und seinen »Traum zu leben«. Mit dem Träumen wird es hingegen im echten Leben schwierig, wenn man dermaßen in der kapitalistischen Realität verhaftet ist, dass ein großes Auto, mit dem man Wege fährt statt geht, als gelebter Traum durchgeht.

Aber warum sollte der private Diskurs auch individueller und vielfältiger sein als der öffentliche, wo ja ebenfalls viel Vor-Gedachtes als eigene Meinung ausgegeben wird. Unterschiedliche Wege, wie sie auf den Tattoos behauptet werden, sind, scheint es, gerade gesamtgesellschaftlich nicht so en vogue. Welcher Weg der einzig richtige ist, bestimmen stattdessen oftmals Twitter und diejenigen Journalistinnen und Journalisten, die sich ihre Agenda von der eigenen Filterblase diktieren lassen.

Weiter käme man oft schon, wenn man mal den eigenen Stadtteil und die eigene Stammkneipe verlassen würde und Augen und Ohren offen halten würde, anstatt Vorträge zu halten. Man könnte sogar mal - ein ganz verwegener Gedanke - mit Menschen sprechen, die nicht studiert haben. Die haben mit Mitte 20 jedenfalls meist mehr erlebt als mancher erstaunlich selbstbewusst auftretende Zeitgeist-Dogmatiker.

Jahrelang glaubte man, dass Konformismus etwas ist, das vor allem von autoritären Regimen und religiösen Fanatikern eingefordert wird. Heute weiß man, dass Menschen, die sich für links halten, ebenfalls ganz gut darin sein können, abweichendes Verhalten ausrotten zu wollen. Mir persönlich ist der Vernichtungswille, der aus vielen Twitter-Posts spricht, jedenfalls zuwider.

Apropos, hat in NRW wirklich jemand vorgeschlagen, Sahra Wagenknecht aus der Linkspartei auszuschließen? Und haben diejenigen ihr Buch überhaupt gelesen, oder lassen sie sich nur vor der Welle im Netz vor sich her treiben? Bleibt zu hoffen, dass die Leute, die bei jedem minimalen Dissens boykottieren und canceln wollen, etwas kommunikativer zu Werke gehen, wenn sie mal einen Ehestreit haben. Das Gesundheitssystem ist eh schon überlastet.

Für das »Neue Deutschland« zu schreiben, hat mir jedenfalls immer großen Spaß gemacht. Weil da so nette und kompetente Kollegen wie Jirka, Alex und Oliver arbeiten - danke für alles. Aber auch, weil im »nd« unterschiedliche Meinungen zugelassen und publiziert werden und Sie, liebe Leserinnen und Leser, mich mit klugen Zuschriften immer wieder zum Nachdenken gebracht haben. Ich gehöre leider ja auch zuweilen zu denen, die erst reden und schreiben. Und am Montag dann merken, dass der Gedanke vom Sonntag nicht zu Ende gedacht war.

Dekrete, Dramen, Debütanten. Über die guten Geschichten des
Auftaktwochenendes der Fußball-Europameisterschaft

Dies war jedenfalls meine letzte Kolumne, ab September werde ich nicht mehr als freier Journalist arbeiten. Statt »irgendwas mit Medien« mache ich dann irgendwas mit Fußballfans und sozialen Themen. Könnte spannend werden und das hoffentlich nicht nur für mich. Jetzt gehe ich aber erst mal ins Schwimmbad. Das Wagenknecht-Buch nehme ich mit. Ich selbst bin zugegebenermaßen auch erst auf Seite 130.

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