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Koalition der gebrochenen Versprechen

Die Aufklärung des Breitscheidplatz-Attentats wird von der Bundesregierung hintertrieben

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 4 Min.

Mehr als 750 Stunden Sitzungszeit hat der Untersuchungsausschuss im Bundestag zum Attentat vom Breitscheidplatz hinter sich. Zeit, in der 148 Zeug*innen vernommen wurden. Akten und Videomaterial sind kaum zu überblicken. Dass die Parlamentarier*innen, die nun eigentlich den Abschlussbericht präsentieren wollen, nun doch noch eine weitere Zeugenvernehmung anberaumen, spricht Bände. »Die Betonung vorläufig ist mit besonders wichtig, weil wir nicht glauben, dass diese Bundesregierung wirklich alle Steine umgedreht hat, die es umzudrehen galt«, sagte FDP-Obmann Benjamin Strasser anlässlich der Präsentation des Sondervotums am Freitag in Berlin.

Nachdem die Beweisaufnahme bereits geschlossen war, reichte der Verfassungsschutz noch einige Akten nach, die wesentliche Zeugenaussagen einer Sachbearbeiterin des Geheimdienstes nun in ein neues Licht rücken. »Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist«, hieß es aus der SPD-Fraktion noch zum Auftakt der letzten Sitzungswoche. Bis zum Freitagmorgen blieben die Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke noch allein mit ihrer Forderung nach einer Sondersitzung am Dienstag. Kurz vor der Pressekonferenz der drei Parteien lenkten die Sozialdemokraten dann aber doch ein und votierten für eine weitere nicht-öffentliche Sondersitzung. »Das zeigt: Man will auch eigentlich gar nicht aufklären«, so Strasser. Grünen-Abgeordneter Konstantin von Notz kritisierte via Twitter, dass die Bundesregierung die vollständige Aufklärung der Hintergründe und Zusammenhänge des Anschlags offensichtlich hintertreibe.

»Wir haben rechtswidriges Handeln der Geheimdienste festgestellt«, macht die Obfrau der Linken, Martina Renner, klar. Die Dienste haben demnach Informationen zurückgehalten, die nach dem Anschlag an die Generalbundesanwaltschaft weitergeben werden müssen. Offenbar stehe der Quellenschutz der Geheimdienste weiterhin über dem Aufklärungsinteresse bei Straftaten, kritisiert Renner. Sie fordert auch eine Reform des Untersuchungsausschussrechts: »Wir haben es nicht nur mit einer Bundesregierung zu tun, die das Parlament blockiert.« Die Mehrheit im Ausschuss, gestellt von den Regierungsparteien, exekutiere diesen Regierungswillen und habe keinerlei eigene Interessen bei der Aufklärung des Attentats und weiterer möglicher Beteiligten entwickelt und gezeigt. »Ich muss das leider so deutlich sagen«, so Renner weiter.

Auf 127 Seiten haben die drei Oppositionsparteien ihr Sondervotum verfasst und listen auf, wo ihre Auffassung von den Feststellungen des Abschlussberichtes abweicht, der in der kommenden Woche beschlossen werden soll. Weil insbesondere der Einblick in wesentliche Unterlagen des Verfassungsschutzes und in den Themenkomplex beim Vertrauenspersonenwesen versagt wurde, fordert die FDP nun einen parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten. Dieses Hilfsorgan soll uneingeschränkte und anlasslose Kontrollrechte sowie jederzeit Zugang zu Dienststellen und Datenbanken der Nachrichtendienste erhalten. Die Linksfraktion sieht unterdessen besonders den Bereich des V-Leutewesens als unkontrollierbar an und spricht sich für die Beendigung dieser Geheimdienstpraktiken aus.

»Wir sind an vielen Stellen an den Punkt gekommen, wo wir feststellen mussten: Dort ist rechtswidrig und gegen die einschlägigen Vorschriften gehandelt worden«, kritisiert Renner. So arbeitete der Untersuchungsausschuss heraus, dass die Geheimdienste nach dem Anschlag nicht alle verfügbaren Informationen an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben hätten. Andere Fehler betreffen auch den polizeilichen Bereich. »Da dürfen Quellen nicht alimentiert werden - sie wurden aber alimentiert. Es wurden Straftaten geduldet«, sagt Renner und kritisiert auch den illegalen Ankauf einer Kriegswaffe, der vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern. »Das ist nicht einfach nur über die Stränge geschlagen. Die Geheimdienste kennen die Gesetze und sie dürfen das nicht«, rügt Linke-Politikerin.

Auch sei die Dokumentationspflicht bei den Behörden umgangen worden und man zog es in den Behörden vor, wesentliche Dinge nur mündlich zu besprechen. Dazu zählt die Übernahme der Observation des 2016 in mehreren Bundesländern auffällig gewordenen Täters Anis Amri. Das Bundeskriminalamt hatte einer Übernahme des Verfahrens schon vor Antragsstellung durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen eine Absage erteilt. Das räumte auch die SPD-Fraktion in der vergangenen Woche in einem Pressegespräch gegenüber »nd« ein, sah aber keine Notwendigkeit, die Dokumentationspflicht der beteiligten Behörden anzupassen. Auch beiße sich die Opposition bei der Untersuchung des Tatfahrzeugs zu sehr an Detailfragen fest, was das Gesamtbild verunklare, so die Sozialdemokraten.

Deutungshoheit der Dienste - Daniel Lücking über den Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz

»Es liegt auf der Hand, dass es Unterstützer gegeben haben muss«, fasst FDP-Politiker Strasser die Erkenntnisse zum Attentäter zusammen, den Bundesregierung und Behörden zunächst bevorzugt als Einzeltäter dargestellt hatten. Nach dem Anschlag hatte es konkrete Hinweise mit konkreten Namen von Verdächtigen gegeben, die der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern aber rechtswidrig nicht an die Polizei weitergeleitet hatte. »Nach dem Anschlag war das Motto der Bundesregierung: Alle raus«, so Strasser weiter. Das Kriterium Kontaktperson zu Amri sei ein Abschiebekriterium gewesen. So wurde der Ausschuss im Zusammenhang einer Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Tunesien im Jahr 2017 auf eine Liste von Personen aufmerksam, die die Bundesregierung im Eilverfahren abschieben wollte, statt die Strafverfolgung einzuleiten und eine eventuelle Tatbeteiligung zu prüfen.

Für die Angehörigen und Hinterbliebenen fallen die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses dürftig aus. Die Linksfraktion kritisiert, dass die Bundesregierung ein Aufklärungsversprechen gegeben habe, das eine Erwartungshaltung weckte, die dann im Aufklärungsprozess wieder zerstört wurde.

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