- Politik
- Islamischer Staat
»Wir sind alle verantwortlich«
In Tunesien kämpft der 28-jährige Tänzer Omar Ben Amor gegen die Radikalisierung in der Gesellschaft
Seit 2011 haben sich viele Tunesier dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen. Radikalisiert wurden sie oft im Gefängnis, wo man wegen Nichtigkeiten landen kann. Omar Ben Amor will über diese Situation aufklären und den Gefangenen helfen.
Wenn Omar Ben Amor aus dem Gefängnis kommt, meidet er erst einmal Menschenmassen. Oft setzt sich der 28-Jährige in ein leeres Cafe und schweigt. Wenn sich nach einem Kaffee die Apathie in Wut verwandelt hat, steigt er in ein Taxi und fährt in sein Büro in der Innenstadt von Sfax, Tunesiens zweitgrößter Stadt. Dort betreibt Ben Amor mit einer Handvoll Mitstreitern eine Bürgerinitiative, die Gefängnisinsassen auf ihrem Weg zurück ins Leben hilft.
Das Innenministerium lässt Omars Besuche in eines der berüchtigtsten Gefängnisse Tunesien gewähren, doch weder die Wärter noch die Beamten in der Hauptstadt Tunis scheinen so recht zu verstehen, was die Aktivisten treiben. Denn der ausgebildete Tänzer arbeitet mit Kunst und Theater.
Die modisch gekleideten Aktivisten werden in der konservativen Hafenstadt schon für ihre Mode scheel angeschaut. Kulturschaffende gehen normalerweise in die Hauptstadt, in die Millionenstadt Tunis; Sfax dagegen, ungefähr 270 km südlich von Tunis am Mittelmeer gelegen, hat nur vier Bars und gilt im ganzen Land als funktionell, langweilig und ultrakonservativ. Die Stadt ist vor allem als Wirtschaftszentrum bekannt und zählt rund 300 000 Einwohner.
Im Hinterland der Metropole hebt die Nationalgarde immer wieder Terroristennester aus. Fast jede Woche melden die staatlichen Medien die Stürmung eines Hauses oder die Entdeckung eines versteckten Waffendepots, doch ein Großteil der Radikalisierung bleibt unentdeckt.
»So wie der Fall von Ibrahim Issaoui, der im Oktober in einer Kirche von Nizza drei Menschen mit einem Messer ermordete. Ich habe mit seiner Familie gesprochen, die glaubhaft versicherte, dass sie von ihm nie ein radikales Wort gehört hätten«, sagt Omar Ben Amor.
Der 21-jährige Issaoui stammt aus einem Vorort von Sfax und war wie 17 000 andere Tunesier im letzten Jahr mit dem Boot nach Lampedusa gereist. Von dort hatte er sich dann mithilfe eines Netzwerks von Freunden nach Nizza durchgeschlagen; nur wenige Stunden nach seiner Ankunft schlug er zu.
»Es gibt viele verschiedene Gründe für den Radikalisierungsprozess, der Issaoui zu dieser Wahnsinnstat bewogen hat«, erklärt Omar, »aber eines haben viele mit dieser Gesinnung gemeinsam: einen autoritären Vater und das Erleben von Repressalien durch die Polizei.«
Eines der probaten Mittel, um die von Jugendarbeitslosigkeit geprägten Vororte der tunesischen Metropolen unter Kontrolle zu bringen, sind schnell verhängte Gefängnisstrafen. Als kurz nach dem zehnten Jahrestag der Jasmin-Revolution landesweit Hunderttausende auf die Straßen gingen, um gegen die Untätigkeit der Regierung inmitten der größten sozialen Krise nach der Staatsgründung zu protestieren, nahmen schwerbewaffnete Beamte über 2000 Demonstranten fest. Viele wurden wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt.
Sie sitzen in überfüllten Zellen, zusammen mit Kleinkriminellen, Salafisten und Jugendlichen, denen wegen des Rauchens eines Joints drei Jahre aufgebrummt wurden.
»Oft gibt es für über 100 Insassen in einer Zelle nur 24 Betten. Die Islamisten mit ihren langen Haftstrafen haben das Sagen und versuchen, die Neuankömmlinge umzuerziehen. Gefängnisse sind die größten Terrorfabriken der Region«, sagt Omar Ben Amor schulterzuckend.
Als einige seiner Freunde wegen Nichtigkeiten in das Visier der Stadtteilwache geraten und nach Syrien gehen, beschließt er das Tanzen an den Nagel zu hängen und schreibt einen Projektantrag. Eigentlich wollte er Freunde besuchen, die nach dem Rauchen eines Joints zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, und sie vor den Fängen der Islamisten schützen.
Nicht nur seine Arbeit in dem Gefängnis am Stadtrand, sein gesamtes Leben in der Hafen- und Industriestadt südlich von Tunis scheint eine Hassliebe zu sein. Mit seiner Initiative hilft er Gefängnisinsassen, mit Theater und Kunst den Wiedereinstieg ins Leben zu finden. Die Genehmigungen für die Besuche hinter Gittern erhalten Omar und seine fünf Mitstreiter vom Innenministerium in Tunis. »Aber täglich werde ich Zeuge, wie Justiz und Gesellschaft die Radikalisierung und Migration nach Europa selbst verursachen.«
Immer wieder hört Omar von den Gefangenen, wie sich ihre eigenen Familien, Nachbarn oder Freunde von ihnen distanzieren. Eine Gefängnisstrafe könne man in Tunesien nicht mehr aus dem Lebenslauf streichen, sagt Omar. Selbst für das Mieten einer Wohnung oder bei einem offiziellen Tagelöhnerjob ist ein polizeiliches Führungszeugnis nötig. Und Bewerbungen mit einem so genannten »B 3«-Vermerk seien aussichtslos, berichten die Projektteilnehmer.
Daher hat sich Omar entschlossen, die Öffentlichkeit aufzuklären. Mit dem Kameramann Faisal fährt er in ein bürgerliches Viertel am westlichen Stadtrand von Sfax. Der Taxifahrer schlängelt sich schimpfend und hupend durch den Feierabendverkehr, der die Straßen der 300 000-Einwohner-Stadt tagtäglich lahmlegt. Selbst über der Wirtschaftsmetropole Sfax liegt eine Prise Anarchie.
Vor einem unscheinbaren Häuserblock im Stadtteil Tanjour steigen sie aus, setzen ihre Corona-Schutzmasken ab und verschwinden mit ihrer Kameraausrüstung in einer Seitenstraße, verfolgt von den kritischen Blicken der Nachbarn.
In einem im Hinterhof versteckten Rohbau hat Raja Bouzaie eine Etage gemietet. Die karg eingerichtete Wohnung ist nur über eine Treppe ohne Geländer zu erreichen, überall liegt Plastikmüll herum.
Als Ali und Omar an der Küche anklopfen, begrüßt sie Ayman, Rajas Ehemann, der sich gerade um seinen schwerhörigen Vater kümmert. Die 45-Jährige kocht für ihren Sohn Mohamed - wie immer um diese Zeit. Faisal fängt an zu filmen, als Raja eine Suppe und eine Art Gulasch in Plastikgefäße abfüllt. Später bringt sie diese zum Eingang des Gefängnisses, in dem der 19-Jährige einsitzt. Seit über einem Jahr bestimmt die Untersuchungshaft von Mohamed den Alltag der Familie. »Er hat angeblich auf einer Party jemanden geschlagen und etwas geraucht. Ich glaube aber, dass die Beamten nach einer Rauferei einen Sündenbock gesucht haben«, sagt seine Mutter Raja.
Mit vier anderen Freunden war Mohamed abgeführt worden. Weil Raja und Ayman nicht die geforderten umgerechnet 1000 Euro aufbringen konnten für die Verlegung in ein normales Gefängnis mit besseren Haftbedingungen, verbringt Mohamed die Tage in einer überfüllten Zelle, ohne zu wissen, wie es weitergeht. Seine Freunde sind bereits wieder entlassen worden, berichtet Raja.
Omar interviewt die Mutter auf dem Dach zwischen Bauschutt. Der Familienname Bouzaie stehe auf einer Liste der Polizeiwache von Tajour, glaubt Raja. Omar bestätigt, dass er immer wieder auf Fälle stoße, bei denen die Polizei nach Schlägereien oder Einbrüchen diejenigen verhafte, die schon einmal straffällig waren.
Als Mohamed im Untersuchungsgefängnis verschwand, war sein Vater gerade erst entlassen worden. »Ich saß drei Jahre wegen Drogenhandels und habe den Fehler, den ich gemacht habe, damit abgebüßt«, sagt Ayman, während er die Hand seines orientierungslosen Vaters hält. »Aber dass mein Sohn oder Freunde für meinen Fehler büßen müssen, ist ungerecht.«
Omar stehen nach den Interviews mit Raja und Ayman die Tränen in den Augen. Plötzlich wirkt er, als wäre er lieber wieder ein Tänzer und nicht mitten in der größten sozialen Krise, die das Elf-Millionen-Einwohner-Land seit der Unabhängigkeit durchmacht.
»Die Strategie der Regierung ist seit Jahrzehnten dieselbe: mit Härte und Abschreckung die Lage in Stadtteilen wie Tajour ruhig halten. Ich habe das Gefühl, dass ich mit dem Re-Integrationsprojekt das mache, was die Regierung im zehnten Jahr nach der Revolution machen sollte.«
Doch Omar ist niemand der sich mit Wehklagen zufrieden gibt. Im Juli will er den 45 Minuten langen Film über fünf Familien und Gefangene in Tunis der Öffentlichkeit vorstellen. Zusammen mit einem Soziologen erscheint dann auch ein Buch, in dem Beispiele für die Integration von ehemaligen Strafgefangenen vorgestellt werden. »Die Ausgrenzung der Gesellschaft ist oft schärfer als die staatlichen Willkür. Daher sind wir alle für die Radikalisierung verantwortlich.«
Mehr als 6000 Tunesier schlossen sich seit 2011 dem Islamischen Staat (IS) an, immer wieder sind es junge Tunesier, die Anschläge in Europa verüben. Über 16 000 Tunesier haben sich letztes Jahr auf den Weg nach Europa gemacht.
Omar Ben Amor spielt selbst mit dem Gedanken zu gehen. Als Tänzer ist er in sieben europäischen Städten aufgetreten. »Auch wenn ich der Härte der nachrevolutionären Gesellschaft gerne entkommen würde, ich kann erst weg, nachdem ich das Projekt erfolgreich beendet habe.«
Mitte Juli wird in Tunis ein Theaterstück aufgeführt, das Omar mit einer Gruppe von Strafgefangenen in Sfax geprobt hat. Es ist das erste Mal, dass die Öffentlichkeit einen Einblick in den Alltag hinter Gittern von den Gefangenen direkt erfährt.
Der Gaza-Konflikt eint politische Gegner in Tunesien. Die Menschen in Nordafrika erklären sich solidarisch mit den Palästinensern - die jüdische Gemeinde in Tunis sieht derzeit keine Gefahren durch Polarisierung in
Nahost
Raja sagt zu Omar nach Ende der Dreharbeiten, dass sie alles dafür tun werde, damit ihr Sohn Mohamed nach seiner Freilassung Tunesien per Boot gen Europa verlassen könne. Raja und Omar stehen Tränen in den Augen, als sie die Treppe hinuntergehen. Im Taxi auf dem Weg zurück in sein Büro wirkt Omar wie ausgewechselt. »Wir machen weiter, bis dieses Land ein besseres wird.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!