Ein Prager Palast erzählt
Der Tscheche Marek Toman beleuchtet die Geschichte seines Landes aus ungewöhnlicher Perspektive
Prag ist die Stadt der Fensterstürze. Der berühmteste war der zeitlich mittlere, als drei kaiserliche Statthalter 1618 aus der Prager Burg geworfen wurden. Wenigstens landeten sie weich, auf einem Misthaufen.
Trotz des glimpflichen Verlaufs löste der Sturz den Dreißigjährigen Krieg aus, der Böhmen die Unabhängigkeit kostete. Ziemlich exakt zwei Jahrhunderte zuvor hatte bereits ein Fensterrauswurf einen Krieg mit ausgelöst. Damals traf es zehn habsburgtreue Prager Ratsherren, die unsanft aus einem oberen Stockwerk ihres Amtssitzes in der Neustadt befördert wurden und entweder auf dem darunter liegenden Pflaster aufschlugen oder kurz vorm Ziel in den Spitzen der aufgepflanzten Hellebarden der unten Wartenden steckenblieben. Keiner von ihnen überlebte. In den anschließenden Hussitenkriegen, geführt von Kaiser Sigismund und als Kreuzzug sanktioniert durch Papst Martin V., verteidigte der Heerführer Jan Žižka die Freiheit der böhmischen Länder.
Der Verlauf der dritten Defenestration ist wesentlich umstrittener. Nur eins ist sicher: das Datum. In der Nacht auf den 11. März 1948 starb der damalige tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk. Er wurde tot im Innenhof des Černínpalais, seines Amtssitzes, gefunden. War der Sohn des Staatsgründers Tomáš Garrigue Masaryk unglücklich gefallen? Hatte er Selbstmord begangen? Oder hatte jemand nachgeholfen? Die genaueren Umstände sind Gegenstand eines Romans, der soeben auf Deutsch erschienen ist. In »Lob des Opportunismus« rekonstruiert Marek Toman nicht nur Masaryks letzte Stunden. Die Geschichte seines Landes seit der Errichtung des Palais, auf der Kleinseite gleich unterhalb der Burg, nicht lange nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs erzählt der Autor gleich mit. Oder besser gesagt: Er lässt sie erzählen.
Denn der Erzähler ist niemand anderer als der Palast selbst. Eine gute Idee, scheinen wir es doch mit einem Augenzeugen zu tun haben, der uns alles aus erster Hand berichtet! Doch Toman ist auch Historiker, und als solcher weiß er, dass nicht alle Quellen gleich verlässlich sind. Dem Palais Černín, so viel vorweg, darf man auf keinen Fall trauen.
Allzumenschlich ist dieser subjektive Erzähler, der von seinen Ressentiments lebt und sich überdies gern instrumentalisieren lässt. Er fühlt sich nicht minder von der Geschichte herumgestoßen wie das Tschechenvolk, das er repräsentiert.
Die Ursprünge des Černínpalais gehen zurück auf die Zeit des Autonomieverlusts, im tschechischen auch als Zeitalter des Temno, des Dunkel, bezeichnet. Damals erwarb ein Humprecht Graf Černín das Gelände oberhalb des Loretoplatzes. Der Bau ging zügig voran, trieb aber den Bauherrn beinahe in den Ruin. Da die Familie ein ähnlich prunkvolles Stadtschloss in Wien besaß, wurde das Prager Anwesen kaum genutzt - außer gelegentlich von den Habsburgern. Zwei ihrer Kaiser, Leopold und Franz, jeweils mit der Ordnungszahl zwei, ließen sich dort krönen. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Übelster Bewohner des Palais war ein Deutscher, der den Titel eines Stellvertretenden Reichsprotektors trug und auf den Namen Reinhard Heydrich hörte. Offiziell war er nur die rechte Hand seines Chefs Konstantin von Neurath, der von den Nazis für zu weich gehalten wurde. Als Heydrich in Prag eintraf, hatte er eine Hinrichtungsliste im Gepäck. Nur acht Monate übte Heydrich die Befehlsgewalt aus. Es waren acht Monate, in denen zahlreiche einheimische Persönlichkeiten seinem Terror zum Opfer fielen. Der Anschlag auf Heydrichs Dienstwagen am 27. Mai 1942 durch zwei aus London eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmspringer bildete die fast schon logische Konsequenz. Fast hätte Heydrich überlebt, doch die nach der Explosion in seinen Körper eingedrungenen Fasern des Beifahrersitzes führten zu einer tödlichen Sepsis.Penizillin hätte ihn gerettet, doch das gab es seinerzeit nur bei den Briten; und die rückten es nicht raus. Zumindest nicht für einen deutschen Nazi.
»Leider war das Herz des Protektors nicht ausreichend aus Stahl! Oder vielmehr seine Milz«, grämt sich der Palast in Tomans Roman. Doch die Trauer ist nicht echt, wie ja auch der Erzähler nicht echt ist. Da kann dieser noch so sehr seine Sympathie für den ach so effizienten Heydrich beteuern und schmachten, was für ein netter Familienmensch der »liebe Reinhard« eigentlich war. Toman geht hier klar auf Distanz zum Palais Czernin und lässt dabei reichlich Zwischenraum, der zuweilen mit Schadenfreude ausgefüllt ist - zum Vergnügen der Leserschaft.
Doch dabei belässt es der Autor nicht. Öfters bringt er sich in die Handlung ein und stellt aus dem Off kritische Fragen. Etwa, wie es möglich war, dass immer wieder Fremde sein Volk regierten; die Habsburger, die Nazis, schließlich die Sowjets. Ob die Tschechen daran nicht eine gewisse Mitschuld tragen? Ob sie »vielleicht irgendein Talent haben, sich ihre Niederlagen zu organisieren, um sie dann durch ihr Verhalten noch zu vervielfachen?« Natürlich gab und gibt es unter ihnen auch kritische Geister, die sogar Widerstand leisteten. Der zu zahlende Preis für solche Renitenz ist immer hoch gewesen: »Was ist das für eine Macht?«, hakt Toman nach, »die sich hier denen in den Weg stellt, die etwas ändern wollen? Gibt es hier etwa irgendeinen Schacht, einen Schlot, in dem die Geschichte immer ins Trudeln kommt und dann im unkontrollierten Fall endet?«
Siehe Jan Masaryk. Der war einer von zwei nichtkommunistischen Nachkriegsministern und stellte sich der neuen Schutzmacht, den Sowjets, öfters in den Weg. Historisch gesehen war er wohl ein Zufrühgekommener. In der »Samtenen Revolution« hätte Masaryk vermutlich einen besseren Platz gefunden als nach dem kommunistischen Umsturz im so genannten vítězný únor, dem siegreichen Februar. Masaryk stand im Weg. Musste er deshalb aus dem Fenster? Toman liefert eine sehr penibel recherchierte Antwort. Sie soll nicht verraten werden, denn die Lektüre - sie birgt einige Wendungen - lohnt sich. Selten wurde Geschichte hintergründiger und filigraner vermittelt.
Marek Toman: Lob des Opportunismus. A. d. Tschech. v. Raija Hauck. Wieser Verlag, 400 S., geb., 21 €.
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