• Wissen
  • Fünfte Thule-Expedition

Durch die Welt der Inuit

Vor 100 Jahren ließ die Fünfte Thule-Expedition die Inuit die Bühne der Öffentlichkeit betreten - mit Gesicht und Geschichte. Es war der Gründungsakt einer ethnografischen Wissenschaft

  • Andreas Knudsen
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 24. September 1921 standen die Expeditionsmitglieder der Fünften Thule-Expedition am Strand einer Insel in der Hudsonbucht und beobachteten, wie ihr Schiff »Søkongen« langsam am Horizont verschwand. Für die dänischen Expeditionsteilnehmer Knud Rasmussen, Kaj Birket-Smith, Peter Freuchen, Therkel Mathiassen, Helge Bangsted und Jacob Olsen war das aber kein Anlass zur Besorgnis, denn sie kannten das Leben in der Arktis. Und für Arqioq, Nasaitordlurssuk, Nasaitordluarsuk, Aqatsaq, Qavigarssuaq und die Frauen Arnanguaq, Aqatsaq und Arnarulunguaq war die Arktis ganz einfach ihr Zuhause.

Knud Rasmussen und seine Idee

Eine ungewöhnliche Expedition konnte beginnen, die - abgesehen von Gewehren und Fotoapparaten - zu den Bedingungen der ersten Bewohner der Arktis durchgeführt wurde. Die Teilnahme von Frauen war notwendig, denn ohne ihre Arbeit beim Nähen von Pelzkleidung, im Haushalt und als Schlittenkutscher hätten die Männer die Expedition nicht durchführen können. In den Wochen vor der endgültigen Abreise wurde die Expedition von mehreren Unglücken heimgesucht. Erst lief ihr Versorgungsschiff auf eine Klippe und dann raffte die Spanische Grippe drei inuitische Teilnehmer*innen, darunter Peter Freuchens Frau, dahin.

Es war keine luftige Idee, die zur Expedition in Kanadas arktischem Norden führte und eine damals astronomische Summe von rund eine Million dänischer Kronen kostete. Ihr Leiter, Knud Rasmussen, hatte sein Vorhaben schon 1909 in einem wissenschaftlichen Artikel skizziert, in dem er auch die Vermutung äußerte, dass alle »Eskimovölker«, wie die Inuit damals noch genannt wurden, eine gemeinsame sprachliche und geografische Wurzeln hätten. Zwar gab es sporadische Aufzeichnungen und Beobachtungen europäischer Reisender, die darauf hindeuteten, aber vergleichende Studien konnten nur vor Ort geführt werden. Und dazu war kaum ein anderer besser geeignet als »Kunuk«, kleiner Knud, wie er auf grönländisch heißt.

Geboren und aufgewachsen im grönländischen Jakobshavn, heute Ilulissat, und selbst teilweise inuitischer Abstammung, lernte Rasmussen von Kindesbeinen an Sprache, Jagdfertigkeiten und Hundeschlittenfahren. Die Mythen und Sagen, die er von den Verwandten seiner Mutter hörte, beflügelten nicht nur seine kindliche Fantasie, sondern gaben ihm als Erwachsenen Sinn und Ziel seiner Forschungen. Knud Rasmussen konnte sich aber auch in den oberen Gesellschaftskreisen Dänemarks bewegen und gewann Christian X., der von 1912 bis 1947 Dänemarks König war, für sein Projekt. Der König hielt sich zum Zeitpunkt des Expeditionsstarts in Grönland auf und es war sein Schiff, dass das Versorgungsschiff von den Klippen rettete.

Vom Hundeschlitten zur Universität

Geografischer Schwerpunkt der Expedition waren die Gebiete um die Hudsonbucht. Ihr Inneres war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannt und die Kartierung, Sammlung von meteorologischen Daten, Gesteinsproben und das Anlegen einer botanischen Sammlung waren ebenfalls Aufgaben der Expedition. Matthiassen und Olsen führte eine Reihe archäologischer Ausgrabungen durch und sammelte dabei Tausende von Artefakten. In Unkenntnis der Tabus der Inuit, die Hinterlassenschaften der Vorfahren in Frieden ruhen zu lassen, schwebten die Dänen dabei in der Gefahr, von ihren Gastgebern getötet zu werden.

Schon die ersten Begegnungen mit den Inuit bestätigten Rasmussens Theorie, dass die Inuitvölker eine »große Familie« bilden. Bei den Netsilik Inuit konnte er nicht nur Ähnlichkeiten der Sprachen feststellen, sondern sich auch mit ihnen in seiner Muttersprache verständigen, wenn auch beschwerlich. Für den wissenschaftlichen Beweis hatte Rasmussen den Philologen und Ethnografen Kaj Birket-Smith als Teilnehmer gewonnen. Kunuk war Folklorist und ein Mann, der sich nächtelang mit seinen neuen Freunden unterhalten konnte und ihre Erzählungen und Mythen aufschrieb.

Birket-Smith veröffentlichte nach seiner Rückkehr von der Expedition mehrere wissenschaftliche Werke und gründete das Institut für Eskimologie als selbstständigen Zweig der Ethnografie an der Universität Kopenhagen. Die führende Rolle der Universität Kopenhagen auf diesem Gebiet und die reichhaltigen Sammlungen des Dänischen Nationalmuseums gehen im Wesentlichen auf diese drei Männer zurück. Der deutsch-amerikanische Ethnograf Franz Boas hatte zuvor mit seinen Expeditionen schon wichtige Forschungsimpulse gegeben.

Die große Reise nach Alaska

Während die Mehrzahl der Männer 1924 nach Grönland und Dänemark zurückkehrte, begann Kunuk am 11. März 1923 seine lange Reise gen Alaska. Er wollte die Wanderroute der Inuit zurückverfolgen, um sich ihren Wurzeln zu nähern. Zu seiner Überraschung wurde die sprachliche Verständigung zwischen ihm und seinen beiden Inughuitbegleitern in Alaska besser als in der zentralen Arktis. Unterwegs sammelte Rasmussen Trachten, Musikinstrumente und Haushaltsgegenständen von allen Inuitgruppen, auf die er traf. Amulette waren schwer zu beschaffen, aber da ihm der Ruf eines machtvollen Schamanen vorausgeeilt war, konnte er diese oft gegen ein Büschel seines Haares eintauschen, da sich hier nach Ansicht der amerikanischen Ureinwohner magische Kraft konzentriert.

Kunuks einzigen Begleiter über etwa 6500 Kilometer waren Qavigarssuaq und dessen Kusine Arnarulunguaq. Am 8. Juni 1924 erreichten sie Icy Cape in Alaska und Rasmussen hatte eine seiner fruchtbarsten Perioden als Wissenschaftler. In wenigen Wochen sammelte er Hunderte Objekte der Inuit ein, die hier, im Gegensatz zu Grönland, vorzugsweise von Rentier- und Waljagd lebten. Ein Kameramann filmte Tänze, die heute sonst vergessen wären. Mit der ersten verfügbaren Telegrafenverbindung kabelte Rasmussen ein Ersuchen an die sowjetischen Behörden in Moskau, den Besuch von Chukotka zu erlauben, um als Abschluss noch die sibirischen Inuit besuchen zu können. Unter Zeitdruck stehend, reiste er ohne Dokumente über die Beringstraße. Die Inuit hier konnten ihn durchaus als einen der »Ihren« erkennen.

Doch eine gemeinsame Sprache mit den lokalen Behörden fand Kunuk nicht. Er wurde nach drei Tagen des Landes verwiesen. Die Besuchserlaubnis aus Moskau traf ein, als Kunuk, Qavigarssuaq und Arnarulunguaq bereits in einem buchstäblichen Triumphzug nach Hause reisten. Von Seattle bis Kopenhagen wurden sie umjubelt und sowohl im Weißen Haus wie im königlichen Palast in Kopenhagen empfangen. In den folgenden Jahren arbeiteten die dänischen Expeditionsteilnehmer an der Auswertung ihrer Feldresultate. Kunuk schrieb mit »Die große Schlittenreise« einen Bestseller, öffnete mit seinen »Eskimomärchen« der Welt die Schatzkammer inuitischer Erzählungen und führte weitere Expeditionen durch. Kunuk wird heute noch als dänisch-grönländischer Nationalheld betrachtet.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -