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Halbwahrheiten 2.0

Über Geschichte und Relevanz des Postfaktischen

  • Larissa Kunert
  • Lesedauer: 4 Min.

Was können uns Gedanken, formuliert vor mehr als einem halben Jahrhundert, über den gegenwärtigen Rechtspopulismus sagen? Diese Frage wurde bereits feuilletonistisch diskutiert, nachdem der Suhrkamp eine 1967 von Theodor W. Adorno gehaltene Rede unter dem Titel »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« herausgegeben hatte. Mit »Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit« ist nun ein Büchlein der Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess erschienen, das ebenfalls eine Brücke von der Theorie Adornos - insbesondere seinem aus der Erfahrung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus entwickelten Ideologiebegriff - zur Gegenwart schlägt. Damit soll die heute vor allem von Rechtspopulisten angewandte postfaktische Rhetorik wissenschaftlich erhellt werden. Gess zeigt sich dabei der Besonderheit geschichtlicher Vorgänge und ihrer Bedingungen durchaus bewusst, wenn sie etwa schreibt, dass sie den Rechtspopulismus Donald Trumps nicht mit dem historischen Faschismus gleichsetzen will. Gleichwohl erkennt sie Analogien zwischen beiden Phänomenen und legt nahe, dass sich aus der ideologiegeschichtlichen Erzählung Adornos Schlüsse für die Bewertung aktueller Ereignisse ziehen lassen.

Adorno zufolge entwickelte sich infolge des Hochkapitalismus und der bürgerlich-liberale Ideologie der Moderne eine durch Konsum geprägte Massenkultur. Innerhalb dieser nahm Ideologie zunehmend die Form der bloßen Abbildung des Bestehenden an. Eine solche spätliberale und kulturindustriell geprägte Ideologie lässt sich Adorno zufolge nicht mehr an den Kriterien »wahr« und »falsch« messen. Deshalb verlegte sich philosophische Kritik zunehmend auf eine bloße Verortung von Macht innerhalb des gesellschaftlichen Systems, das grundlegend nicht mehr angreifbar war. Von einer solchen Denkweise allerdings, so führt Gess mit Adorno aus, sei der Schritt zum Totalitarismus nicht mehr weit. Totalitarismus setze Wahrheit und Herrschaft vollends gleich und zeige sich immun gegen Kritik, weil ein durch Logik und Argumentation erlangter Zugang zur Wahrheit grundsätzlich abgelehnt wird.

In »Halbwahrheiten« fehlt es leider an einer plausiblen Begründung für die umstandslose Bezugnahme auf Adornos Gedanken zu Ideologie, Massenkultur und Faschismus, um damit den weltweiten Erfolg rechtspopulistischer Parteien und Rhetoriken zu erklären. Zudem wäre es aufschlussreich gewesen, auf Unterschiede zwischen 1967 und der Gegenwart einzugehen. Gess macht jedoch anhand von Beispielen glaubhaft, dass zumindest die grobe Stoßrichtung gesellschaftlicher Formationsprozesse unverändert bestehen: So erkennt sie auch bei den Rechtspopulisten von heute Ansätze der von Adorno beschriebenen Verschmelzung von Herrschaft und Wahrheit, die vom historischen Faschismus ins Extreme getrieben wurde. Die AfD spreche zwar schon mit ihrem Namen eine gesellschaftlich empfundene Alternativlosigkeit an und präsentiere sich als Ausweg. Nicht aus dem Kapitalismus allerdings: Während der »gemäßigte« Flügel die liberale Ideologie des Spätliberalismus beibehalten und lediglich Fremdenfeindlichkeit normalisieren wolle, verwerfe der völkische Flügel mit der Kritik an der Scheinhaftigkeit der bürgerlich-liberalen Ideologie diese gleich ganz - mitsamt ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Stattdessen werde offen Autoritarismus propagiert.

Gess argumentiert, dass Halbwahrheiten für die sich ausbreitende postfaktische Rhetorik, die sich besonders Rechtspopulisten zunutze machten, ein konstitutives Element bilden. Halbwahrheiten orientierten sich nicht an Wissen und Beweisbarkeit, sondern allein an Glaubwürdigkeit. Anders als Gerüchte bezögen sich sie sich zwar auf nachweisbare Fakten und echte Geschehnisse, bereiteten diese jedoch innerhalb fiktiver Erzählungen so auf, dass sie in bereits bestehende Welterklärungsmodelle von Verschwörungsideologen passen. An den Äußerungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp, des Verschwörungsideologen Ken Jebsen, des ehemaligen »Spiegel«-Reporters Claas Relotius und des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump zeigt Gess, auf welche Weisen Halbwahrheiten derzeit verwendet werden und wie sie ihre Wirkung entfalten.

Zudem ruft Gess verschiedene literarische Figuren und Ansätze auf, um die Figur der Halbwahrheit in der Wissensgeschichte zu verorten. So zeigt sie mit Johann Jakob Breitingers »Critischer Dichtkunst« von 1740, dass das Bemühen um Glaubwürdigkeit aus der Dichtungstheorie bekannt war - bevor der Autor dem Leser gemeinhin zu verstehen gab, dass er seine Geschichte als erfunden gelesen wissen möchte. Literatur aus der Zeit Breitingers sollte statt mit reiner Fiktion mit Halbwahrheiten operieren, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen. An einigen Stellen hätten derlei Kontextualisierungen sicherlich noch weiter ausgeführt werden müssen, um spannenden Punkten wirklich nachzugehen. Schade etwa, dass die Nähe der »Neuen Mythologie« in der Romantik zur heutigen Produktion von Halbwahrheiten nur in einem Satz erwähnt wird. Trotz dieses sehr kursorischen Formats liefert Nicola Gess mit »Halbwahrheiten« und der darin formulierten These einen praktikablen Ansatz, um die postfaktische Rhetorik nicht nur von Rechtspopulisten besser zu verstehen.

Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Matthes & Seitz, 157 S., br., 14 €.

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