- Politik
- 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion
Eine Insel für die Toten
Im Norden verscharrt und aus dem Bewusstsein verdrängt - die Sklavenheere aus dem Osten
Tatort Trondenes - eine kleine norwegische Gemeinde nördlich des Polarkreises. Passagieren der Hurtigruten-Schiffe wird ein Besuch des kleinen Gotteshauses empfohlen. Es sei, so heißt es im Prospekt, die nördlichste mittelalterliche Steinkirche der Welt. Ob das Konstantin Grigorjewitsch Seredinzew gewusst hat, als er Anfang der 1940er Jahre in der Gegend war? Ganz sicher hätte der 1912 im heutigen Wolgograder Gebiet Geborene gern vor dem Altar gekniet und Gott angefleht: Hilf mir, dass ich meine kleine Alja wieder in die Arme nehmen kann! Seinem erst nach Ende des Krieges gefundenem Tagebuch vertraute er am 1. April 1943 - es war der zweite Geburtstag seiner Tochter - an: »Als ich dich verlassen habe, warst du gerade mal ein paar Monate alt. Du kennst mich nicht und ich kann mir kein Bild von dir machen.« Der Gedanke, »dass wir uns nicht wiedersehen und besonders, dass du aufwachsen wirst, ohne deinen Vater zu kennen«, mache ihm Angst. Diese Angst lag noch bis zum 22. Mai auf der Seele des gefangenen Rotarmisten. Dann starb er. Niemand kann sagen woran und wie. Wohl aber weiß man, warum.
Auf der Trondenes-Halbinsel kamen - die genaue Zahl ist unbekannt - in jener Zeit bis zu 1300 sowjetische Kriegsgefangene ums Leben. Knapp eine halbe Fußstunde von dem historisch interessantem Kirchlein entfernt mussten sie - zu Sklaven erniedrigt - für Hitlers Truppen eine Festung bauen. Noch heute lässt sich dort die die sogenannte »Adolf-Kanone« alljährlich von Tausenden Touristen bestaunen, obgleich aus ihr während des Krieges nicht ein einziger gezielter Schuss abgegeben wurde.
In seiner am 1. März 1940 erlassenen Weisung zum Überfall auf Dänemark und Norwegen benannte Hitler die ökonomischen wie die militärstrategischen Gründe für die Okkupation. Man wolle »unsere Erzbasis in Schweden« sichern sowie für Kriegsmarine und Luftwaffe die beste »Ausgangsstellung gegen England« schaffen. 150 000 der rund 200 000 norwegischen Industriearbeiter mussten für »das Reich« schuften. Doch das Ergebnis reichte den Auftraggebern nicht. Ab August 1941 und damit ein halbes Jahr vor dem Beginn ihres Sklaveneinsatzes in Deutschland wurden sowjetische Kriegsgefangene nach Norwegen deportiert. Per Schiff. Ausgangshafen war zumeist Stettin. Die Okkupanten zwangen sie, Befestigungsanlagen, Straßen, Eisenbahnlinien, Tunnel, Häfen, Flugplätze und Fabriken zu bauen. Allein zum Vortrieb der 729 Kilometer langen und noch immer extrem wichtigen Nordlandsbanen, die Trondheim mit Bodø verbindet, ließen die Nazis 67 Arbeitslager errichten. Darin hausten - so die Statistik - 20 432 sowjetische Kriegsgefangene, zumeist gegliedert in sogenannte Kriegsgefangenen-Arbeits-Bataillone. Wie? In den bereits vor dem »Barbarossa«-Überfall auf die Sowjetunion von der Wehrmachtsführung erarbeiteten Bestimmungen zur Behandlung der zu erwartenden Kriegsgefangenen wird klar gemacht, dass »der bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren« hat.
Sogenannte Ostarbeiter aus den besetzten sowjetischen Gebieten sowie Kriegsgefangene aus Jugoslawien und Polen kamen hinzu. Sie alle wurden von der SS, deren norwegischem Ableger Hird, der Wehrmacht, der Organisation Todt oder Werkschützern diverser Firmen bewacht. Bisweilen, so Berichte, beaufsichtigten Kriegsgefangene ihre Kameraden - für eine zusätzliche Ration und einen Ofen in der Unterkunft. Das in den deutschen Konzentrationslagern erprobte Teile-und-herrsche-System funktionierte auch in Norwegen.
Den Gefangenen bot man oft genug lediglich Stroh als Schlafstätte, sie hatten in der rauen Region nur unzureichende Kleidung, die Dauer eines Arbeitstages schwankte zwischen zehn und 14 Stunden. Eine Tagesration für sowjetische Kriegsgefangene in Norwegen bestand, so fanden Historiker heraus, aus einem Liter fleischloser Suppe, 300 Gramm Brot, manchmal gab es Fisch.
Der Mangel und die schwere Arbeit führten dazu, dass sieben von zehn Gefangenen krank wurden, recherchierten Nachkriegsforscher und verweisen auf einen von Generalquartiermeister Eduard Wagner im November 1941 erlassenen Befehl. Inhalt: »Nicht arbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern.« 15 000 der vermutlich 91 800 in Norwegen ausgebeuteten sowjetischen Kriegsgefangenen überlebten die Qualen nicht. Nur rund 2500 der überall Verscharrten konnten nach dem Krieg identifiziert werden. Zur grausamen Statistik gehört: Die Völker der Sowjetunion haben in Norwegen mehr Tote zu beklagen als Norwegen während der Nazi-Okkupation sowie an den anderen Fronten des Zweiten Weltkrieges.
Tatort »Rigel«
Das Kriegstagebuch von Hitlers Seekriegsleitung vermeldete am 27. November 1944 militärisch knapp und gefühllos: »Gegen 11 Uhr wurde westsüdwestlich Mosjoen Südgeleit bei Skjelva mit Bomben und Bordwaffen von 11 Spitfire angegriffen. Dampfer «Rigel» (3828 BRT) mit Kriegsgefangenen an Bord, erhielt Bombentreffer und ist nach 4 Stunden gesunken. Dampfer ›Korranes‹ wurde brennend aufgesetzt. Schiff ist verloren.«
Die »Rigel« war ein beschlagnahmtes norwegisches Frachtschiff. Nachdem sowjetische Truppen im Oktober 1944 Gebiete im Norden Norwegens erobert hatten, zog sich die Wehrmacht schrittweise zurück. Auch Gefangenenlager wurden nach Süden verlegt. Die »Rigel« nahm Ende November im Hafen von Bierkvik die ersten Ladung sowjetischer Kriegsgefangenen an Bord. In Narvik und anderen Orten ergänzte man die Sklavenfracht. Letztlich waren 2248 sowjetische, polnische und serbische Kriegsgefangene in den Laderäumen. Dazu kamen 95 deutsche Häftlinge, die zum Teil wegen Fahnenflucht inhaftiert waren, sowie acht norwegische Gefangene. Es gab 455 Mann deutsches Wachpersonal, die Schiffsbesatzung bestand aus 28 Mann und einer Frau. Drei norwegische Lotsen wiesen den Weg durch die Fjorde.
Während die »Rigel« gesichert durch deutsche Kriegsschiffe im Geleit fuhr, hatte die deutsche Funkaufklärung einen britischen Flugzeugträger vor der Küste ausgemacht. Die Flugzeuge der »HMS Implacable« suchten Beute und entdeckten sie zwischen den Inseln Tjøtta und Sondre Rosøya. Dass auf der »Rigel« Gefangene eingesperrt waren, konnten die Piloten nicht wissen. Den Angriff überlebten nur 267 Menschen. Den ganzen Winter über wurden Leichen ans Ufer getrieben. »Als Kinder durften wir erst ans Ufer gehen, wenn die Erwachsenen überprüft hatten, ob es in Ordnung war«, erinnerte sich Rigmor Bosness in einem Zeitungsinterview zum 70. Jahrestag der Katastrophe. Als junges Mädchen hat sie zugeschaut, wie man die Toten in einem Massengrab auf Tjøtta bestattete. Noch bis 1969, so erzählen Einheimische, hat das Wrack der »Rigel« aus dem Wasser geragt. In ihm waren noch Hunderte Leichen.
Bis zu seinem Tode im Jahr 2004 erzählte Asbjarn Schultz von dem Grauen, das er als einziger Norweger überlebte. »Die Briten feuerten weiter, sowohl auf die im Wasser als auch auf die auf den Flößen. Ich dachte, wenn wir nicht an Land kommen, würden wir uns zu Tode frieren.« Mit den Händen paddelten er, ein sowjetischer Kriegsgefangener und ein deutscher Bewacher um ihr Leben. Am Ufer ging jeder seiner Wege.
Trond Carlsen, ein Heimathistoriker, schrieb ein Buch über Norwegens größtes Schiffsunglück. Er meint zwar, der norwegische Untergrund müsse gewusst haben, dass die »Rigel« Gefangene transportiert. Doch seit Herbst 1944 habe es ein Abkommen zwischen Norwegen und Großbritannien gegeben, wonach die Briten jedes Schiff nördlich von Stavanger ohne weitere Nachfrage versenken konnten. Nach dem Krieg war das Thema tabu. Noch in der 1990 erschienenen historischen Ausgabe »Norwegen im Krieg« sucht man vergeblich nach einer Notiz über das Geschehene, das an eine ähnliche Tragödie in der Lübecker Bucht erinnert. Dort lagen die Dampfer »Arcona« und »Thielbek« vor Anker, als sie nur Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges von britischen Flugzeugen angegriffen wurden. Die Piloten vermuteten deutsche Truppen an Bord. Welch Irrtum! Die SS hielt auf den Schiffen KZ-Häftlinge gefangen.
Tatort Tjøtta
Neben dem inzwischen zur Gedenkstätte geweihten Massengrab auf der kleinen, kaum bewohnten Insel Tjøtta, gibt es ein weiteres, durchaus planmäßig verdrängtes Stück jüngerer norwegischer Geschichte. Vor sieben Jahrzehnten, im Sommer 1951 startete die »Operation Asphalt«. Auf Geheiß der Regierung in Oslo exhumierte man die überall in Norwegen begrabenen sowjetischen Opfer der Nazi-Diktatur. Das Verteidigungsministerium wollte, dass die Überreste der sowjetischen Soldaten auf einem Friedhof konzentriert werden. Den legte man auf der Insel Tjøtta an, unweit jener Stelle, an der die Opfer des »Rigel«-Massakers bestattet sind. Für den Transport der Gebeine verwendete man Säcke, die sonst für Asphaltarbeiten benutzt wurden. Das erklärt den Namen der zunächst streng geheim gehaltene Aktion, die dem inzwischen begonnenen Kalten Krieg geschuldet war. In Korea tobte ein blutiger ideologischer Kampf. Norwegen war 1949 dem Nato-Bündnis beigetreten und witterte hinter Moskaus Grabpflege in Norwegen und den anreisenden Delegationen eine Spionageaktion der »Russen«. Falls es die wirklich gab, so ist sie noch immer ein vom Kreml bestens gehütetes Geheimnis.
Zum Abschluss der »Operation Asphalt« hatte man die Gräber von fast 200 Friedhöfen im ganzen Land geleert und die Gebeine per Frachtschiff auf die Insel geschafft. Die Presse bekam davon Wind, norwegische Kommunisten wie Konservative zeigten sich entsetzt, Moskau protestierte. Doch da endete die Aktion bereits und in Oslo war man überzeugt, dass man die »freie Welt« ein Stück sicherer gemacht hat.
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