Wunder eines Überlebens

Jewgeni Chaldej dokumentierte den Kampf der Roten Armee gegen die faschistischen Angreifer vom Anfang bis zum Sieg im Mai 1945

Er war nicht nur bei zahlreichen kriegsentscheidenden Ereignissen dabei, sondern bannte auch die Erschütterung der Bürger Moskaus an jenem Vormittag des 22. Juni 1941 auf Zelluloid, als über Lautsprecher in den Straßen der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion vermeldet wurde. Schon damals war dieser Jewgeni Ananjewitsch Chaldej ein Überlebender. Im März 1917 in Jusowka, dem heutigen Donezk, in eine jüdisch-ukrainische Familie geboren, kam er schon als Kleinkind nur knapp mit dem Leben davon: Seine Mutter und sein Großvater starben bei einem Pogrom. Der kleine Junge überlebte schwer verletzt, die Mutter hatte ihn mit ihrem Körper zu schützen versucht.

Chaldej war also ein Gezeichneter - und zugleich ein Mann, der seiner Berufung nachging. Fotograf wollte er schon mit 12 werden, mit 16 begann er eine Ausbildung zum Fotolaboranten. 1936 wurde er, gerade 19-jährig, Fotokorrespondent bei der Nachrichtenagentur TASS. Noch im Juni 1941 wurde er offizieller Kriegsfotograf in der Roten Armee im Range eines Leutnants. Von ihm stammen viele ikonische Bilder: Das berühmteste dürfte jenes vom 2. Mai 1945 sein, auf dem ein Sowjetsoldat die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf dem zerstörten Reichstagsgebäude in Berlin hisst, im Hintergrund sind die Ruinen rund um das Brandenburger Tor zu sehen. Es symbolisiert wie kein anderes den unter unermesslichen Opfern errungenen Sieg über die faschistische Barbarei. Und es tut wenig zur Sache, dass es, wie in deutschen Medien ausführlich erörtert wurde, »gestellt« war. Dass der Soldat die extra genähte Fahne in dieser halsbrecherischen Aktion auf dem Dach des zerstörten Machtzentrums der Faschisten in die Luft hielt und dass es etliche Versuche brauchte, bis sie so im Wind wehte, dass die Symbole darauf gut zu sehen waren.

Auch viele Bilder der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 im Schloss Charlottenburg stammen von Chaldej, so jene Motive, auf denen der sowjetische Staatschef Josef Stalin, US-Präsident Harry S. Truman und der britische Premier Clement Attlee in großen Korbsesseln im Garten sitzen. Die Fotokorrespondenten der Siegermächte machten sich den Spaß, einander auf eben diesen Sesseln gegenseitig zu verewigen. Ebenso bekannt: Chaldejs Bilder von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1946.

Vorher hatte der Fotograf alle denkbaren Gräuel des Krieges erlebt und war Augenzeuge der Verbrechen der Deutschen geworden. Neben offiziell vorgegebenen Motiven, die die Rote Armee stark und im Vormarsch zeigen, hat er auch verletzte Soldaten, verstümmelte Leichen, exhumierte, ermordete jüdische Zivilisten in Kertsch auf der Krim und niedergebrannte Ortschaften fotografiert. Lange war Chaldej fast vergessen, und immer wieder wurde er als Korrespondent in der Sowjetunion aus verschiedenen Gründen entlassen, lebte teils in bitterer Armut, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser haltend.

Erst Anfang der 1990er Jahre wurde er durch den deutschen Fotografen und Karikaturisten Ernst Volland wiederentdeckt. 1994 gab es eine erste Ausstellung in Berlin, zu der Chaldej an die Stätten zurückkehrte, an denen er seine berühmten Aufnahmen gemacht hatte. 1997 stirbt Chaldej in Moskau. Erst im Jahr 2000 wurde in seinem Nachlass ein Tagebuch entdeckt, das er von Juni 1941 bis zum April 1943 geführt hatte.

Dies war insofern eine Sensation, als es insgesamt nur wenige solcher Aufzeichnungen gibt, weil derlei den Soldaten der Roten Armee verboten war. Vieles spricht dafür, dass er seine Erlebnisse meist nicht an der Front niederschrieb, sondern wenn er auf Heimaturlaub in Moskau war. Auch der Tag des Kriegsbeginns ist darin geschildert.

In Berlin gab es 2008 eine weitere große Chaldej-Ausstellung im Gropius-Bau, kuratiert von Ernst Vollland und dem Journalisten Ernst Krimmer. Sie gaben vor zehn Jahren auch die Kriegstagebücher auf Deutsch heraus - als Teil eines Bildbandes mit vielen seiner Kriegsfotografien. Eines dürfte sich ebenfalls ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Es stammt aus der nordwestrussischen Hafenstadt Murmansk nahe Finnland, 1500 Kilometer nördlich von Moskau. Dorthin war er noch am Tag des Kriegsbeginns abkommandiert worden. Die Wehrmacht, so schrieb Chaldej in seinem Tagebuch, hatte über der Stadt, überwiegend aus Holzhäusern bestehend, 350 000 Brandbomben abgeworfen. Danach waren von ihr nur noch Schornsteine übrig. Auf Chaldejs erschütterndstem Bild von dem Inferno ist vorne links eine ältere Frau zu sehen, die alles, was ihr geblieben ist, in einem über die Schulter gehängten großen Koffer trägt, hinter ihr die rauchenden Ruinen unter einem schwarzen Himmel.

Bis zum Kriegsende sollte Jewgeni Chaldej als Begleiter verschiedenster Teilstreitkräfte an vielen Schlachtfeldern etwa 30 000 Kilometer zurücklegen. Dass sein Vater und drei seiner Schwestern schon 1941 und 1942 in seiner Heimatstadt von Deutschen ermordet worden waren, erfuhr er erst nach dem Krieg.

Jewgeni Chaldej: Kriegstagebuch. Das Neue Berlin 2011, 224 S. m. zahlr. Abb.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -