Eine traurige Aufholjagd
In Italien lebt fast jede zehnte Familie in absoluter Armut
Monatelang hatte man in Italien gedacht oder zumindest gehofft, mehr oder weniger finanziell ungeschoren aus der Pandemie herauszukommen. Der Staat hat in den vergangenen anderthalb Jahren verschiedene Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung auf den Weg gebracht. Es wurde ein Entlassungsstopp beschlossen, man hat das Kurzarbeitergeld erhöht und direkt Gelder an verschiedene Bevölkerungsgruppen gezahlt. Aber jetzt, wo zumindest das Schlimmste vorbei zu sein scheint, wird immer klarer, wie sehr die Menschen auch wirtschaftlich unter der Pandemie gelitten haben, und dass die Coronakrise vor allem die Ärmsten in Italien hart getroffen hat.
Das italienische Statistikamt ISTAT hat es offiziell gemacht: Der Anteil der Familien, die in absoluter Armut leben, also nicht genug Geld haben, um ein einigermaßen würdiges Leben zu führen, ist im vergangenen Jahr von 7,7 Prozent auf 9,4 Prozent gestiegen. Das ist der höchste Prozentsatz seit Beginn dieser Aufzeichnungen, also seit dem Jahr 2005. Selbst die Finanzkrise von 2008/9 ist diesbezüglich glimpflicher verlaufen. Im Jahr 2020 sind 300 000 bettelarme Familien hinzugekommen. Dies bedeutet, dass zwischen Bozen und Palermo heute 5,6 Millionen Menschen in gravierender Armut leben.
Das Risiko, in absolute Armut zu geraten, hängt vom Bildungsgrad ab. Bei Italiener*innen, die keinen oder nur einen geringen Abschluss haben, liegt die Armutsquote bei fast 11 Prozent; hat der oder die Hauptverdiener*in der Familie zumindest Abitur, liegt der Prozentsatz bei 4,4. Natürlich hat auch die Tätigkeit, der man nachgeht, Auswirkungen auf das jeweilige Risiko, mittellos zu sein: Unter den Angestellten betrifft die Armut 2,5 Prozent der Familien. Bei den Arbeiter*innen beträgt die Anzahl der Menschen in absoluter Armut 13,2 Prozent, was einen Anstieg von drei Punkten gegenüber dem Vorjahr ausmacht. Die »working poor«, also die Menschen, die trotz einer regulären Arbeit nicht einmal das Nötigste bezahlen können, werden auch in Italien immer mehr. Einen Anstieg von über zwei Prozent verzeichnet man auch bei den Selbstständigen, während die Anzahl der »absolut Armen« bei den Arbeitslosen und bei den Rentner*innen ungefähr gleich geblieben ist.
Außer der Bildung ist auch das Alter ein wichtiger Faktor. Jüngere Italiener*innen sind besonders häufig von Mittellosigkeit betroffen. Bei den Minderjährigen sind es 13,5 Prozent, bei der Gruppe der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 34 Jahren liegt die Quote bei 11,3 Prozent, während von den Senioren über 65 Jahren »nur« 4,5 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben.
Letztlich heißt das, dass bestimmte soziale Sicherheitssysteme »früher« besser funktionierten. So geht es auch jenen Familien verhältnismäßig besser, in denen der Hauptverdiener im Ruhestand ist, wobei die Renten der Frauen auch in Italien weit unter denen der Männer liegen.
Familien mit nur einem Elternteil sind stärker betroffen als andere. Ebenfalls besonders »anfällig« für ein Leben in absoluter Armut sind die Familien, in denen zumindest ein Elternteil nicht italienischer Herkunft ist beziehungsweise nicht die italienische Staatsbürgerschaft hat. Während bei Familien ohne Migrationshintergrund der Prozentsatz bei 8,6 Prozent liegt, steigt diese Zahl bei Familien mit Migrationshintergrund auf bis zu 28,6 Prozent.
Wichtig ist auch die regionale Herkunft, wobei sich hier allerdings eine Trendwende ankündigt. Zwar gibt es prozentual immer noch im Süden die meisten Armen. Dort stieg ihr Anteil von 8,6 auf 9,4 Prozent der Bevölkerung. Aber der sprichwörtlich reiche Norden holt in diesem traurigen Wettlauf mittlerweile auf. Im reichen Norditalien leben heute 47 Prozent der armen Familien Italiens und im Süden 38,6 Prozent. Im Jahr 2019 betrug dieses Verhältnis noch 43,4 zu 42,2 Prozent.
Ein weiterer Faktor, der die absolute Armut »begünstigt«, ist die Anzahl der Familienmitglieder. Im Jahr 2020 lebten 20,5 Prozent der Familien mit drei oder mehr Kindern unter der Armutsgrenze. Bei zwei Kindern sind es 11,2 Prozent und bei einer dreiköpfigen Familie »nur« 8,5 Prozent. Die absolute Armut betrifft 1,337 Millionen Minderjährige, für die es in Italien kaum staatliche Unterstützung gibt. 337 000 Minderjährige (200 000 mehr als 2019) haben heute keinen Zutritt zu den wesentlichen Gütern und Dienstleistungen, heißt es in einer Analyse der Kinder- und Jugendbeauftragten der Regierung Carla Garlatti.
»Es ist überfällig, aber wir müssen dringend neue Instrumente finden, um ein altes Problem zu bekämpfen«, schreibt Garlatti in einem Brief an die Familienministerin Elena Bonetti. Am dringendsten, so heißt es in dem Schreiben, ist, dass »jedes Kind, das in absoluter Armut lebt, zumindest eine vollwertige Mahlzeit pro Tag erhält«. Dafür müsse man in erste Linie die Ganztagsschulen mit Essensausgabe stärken, von denen es in Italien derzeit weniger als 40 Prozent gebe.
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