- Politik
- China und der Westen
»China hält es für nutzlos, mit dem Westen zu reden«
Der Militärexperte Zhao Tong erklärt, warum China militärische Überlegenheit gegenüber Washington erzielen will und der Westen die territorialen Ansprüche auf Taiwan ernst nehmen sollte
Der Westen bemüht sich, Chinas militärische Aufrüstung zu begreifen. Wie würden Sie die übergeordnete Strategie der Volksrepublik beschreiben?
Es gibt zwei Hauptkategorien: Das erste Ziel Chinas besteht darin, seine – laut Eigenwahrnehmung – nationalen Interessen verteidigen zu können. Dazu gehört die nationale Vereinigung mit Taiwan sowie die Sicherung von Territorialansprüchen, einschließlich der Landgrenzen zu Indien und den maritimen Ansprüchen im Südchinesischen Meer.
Daneben besteht für China auch ein neues Bedürfnis, nämlich seine wachsenden Auslandsinteressen schützen zu können: etwa wirtschaftliche Investitionen, oder die wachsende Anzahl an Staatsbürgern, die im Ausland Geschäfte machen oder studieren.
Haben sich die militärischen Ambitionen verändert, seit Xi Jinping die Macht übernommen hat und das Land zu neuer Größe führen möchte?
In Bezug auf die gerade erwähnte erste Kategorie ist die Denkweise mehr oder weniger gleich geblieben. China sieht die größte Herausforderung für seine Sicherheitsinteressen in anderen Großmächten, die sich einmischen könnten. Aber was sich geändert hat, ist das Tempo der militärischen Modernisierung. In den vergangenen Jahren konnte China aufgrund des schnellen Wirtschaftswachstums mehr in den Militärsektor investieren. Nachdem Xi Jinping an die Macht gekommen war, rief er dazu auf, den »Traum von einem starken Militär« zu verwirklichen.
Chinas Militärausgaben steigen jährlich um rund sieben Prozent, liegen jedoch weltweit an zweiter Stelle – deutlich hinter den USA. Kritiker sagen, dass die offiziellen Zahlen Chinas militärische Macht nicht adäquat widerspiegeln.
Als chinesischer Analyst bin ich nicht in der Lage, Chinas offiziell erklärte Militärhaushalte kritisch zu bewerten. Aber ich stimme Ihrer Beschreibung zu, dass ausländische Analysten unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie glaubwürdig der offiziell verlautbarte Haushalt tatsächlich das Niveau der Militärinvestitionen widerspiegelt. Diese haben darauf hingewiesen, dass es schwer zu sagen ist, was genau im Verteidigungshaushalt enthalten ist, zum Beispiel bestimmte Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Und natürlich muss man auch die Kaufkraft eines Landes berücksichtigen. Das würde die Höhe des chinesischen Budgets im Verhältnis zu den Ausgaben anderer Länder erheblich verändern.
Inwiefern beschleunigt der Westen – insbesondere die USA – mit seiner deutlich aggressiveren Chinapolitik die Militarisierung Pekings?
Wenn China eine größere Bedrohung durch die USA wahrnimmt, dann wächst die Dringlichkeit für Peking, seine militärische Macht weiter aufzubauen, um dieser wahrgenommenen Bedrohung entgegenzuwirken.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: China hatte bislang eine eher zurückhaltende Nuklearstrategie gefahren. Das Nukleararsenal war jahrzehntelang viel kleiner als das der Vereinigten Staaten, weil Chinas allgemeine Sicherheitsbeziehung zu den USA während dieser Zeit zwar nicht gut, aber relativ stabil war. China sah keine unmittelbare nukleare Bedrohung durch die USA.
Doch jetzt baut China seine Nuklearstreitkräfte schneller auf als je zuvor.
Chinas Führer Xi Jinping selbst hat dem chinesischen Militär befohlen, die Entwicklung strategischer Abschreckungsfähigkeiten zu beschleunigen. Das ist ein deutliches Signal von oberster Ebene. Und dahinter stehen mehrere treibende Kräfte.
Ursprünglich war Chinas Ziel immer, eine überlebensfähige und sichere Zweitschlagfähigkeit aufzubauen, damit die USA nicht in Betracht ziehen würden, China zuerst mit Atomwaffen anzugreifen. Es braucht also nur ausreichend Atomwaffen, um einen US-amerikanischen Erstschlag zu überleben, und dann genügend verbliebene Atomwaffen zu haben, um eine Vergeltung gegen das US-Festland zu starten.
Mittlerweile argumentieren viele chinesische Strategen jedoch, dass China seine Nuklearmacht aufbauen muss, weil die USA eine viel stärkere Feindseligkeit gegenüber China demonstrieren. Wenn man es analytisch betrachtet, ergibt das keinen Sinn. Denn egal wie feindselig der Gegner ist: Solange über eine sichere Zweitschlagfähigkeit verfügt wird, kann er davon abgehalten, zuerst Atomwaffen einzusetzen.
Inwieweit sollte das die USA beunruhigen?
Die Vereinigten Staaten machen sich nicht unbedingt Sorgen, dass China Atomwaffen in einem militärischen Konflikt zuerst einsetzen wird. Aber sie sorgen sich um die Ungewissheit dahinter, warum Chinas Militär seine Nuklearstreitkräfte aufbaut: Einige Kritiker argumentieren, dass China in Zukunft seine traditionell bescheidene Nuklearhaltung ändern und sein Arsenal zunehmend als Mittel von Druckausübung statt Abschreckung einsetzen könnte.
Um die Perspektive zu wahren: Die USA haben nach wie vor etwa zwölfmal so viele Atomsprengköpfe wie China. In anderen Bereichen hingegen, zum Beispiel bei den Seestreitkräften, holt China rasant auf.
Schaut man sich die Zahl der Militärschiffe an, hat China bereits eine größere Zahl als die US-Marine. Aber rein qualitativ besitzen die USA noch immer die deutlich modernste Marinetechnologien. China holt allerdings sehr, sehr schnell auf.
Und die künftigen Entwicklungen sind aus US-Sicht wirklich besorgniserregend. Der derzeitige US-Militärhaushalt wird wohl auf absehbare Zeit stagnieren, nicht zuletzt gebremst durch die vielen Checks und Balances. China hingegen ist bereit, mehr Ressourcen zu investieren, auch weil die chinesische Öffentlichkeit die Rüstungsindustrie als Kerninteresse der Nation wahrnimmt. Sie ist vor öffentlicher Kontrolle weitgehend sicher.
Welche Rolle spielen Zukunftstechnologien beim Wettrüsten? China investiert massiv in künstliche Intelligenz und Big Data.
Es ist schwer vorherzusagen, da beide Militärs ihre spezifischen KI-Programme sehr geheim halten. Zudem lässt sich nicht leicht prognostizieren, welches Regierungssystem künstliche Intelligenz effizienter für die militärische Modernisierung nutzen kann.
Wie meinen Sie das?
Chinas System ist eher zentralisiert und von oben herab. Zudem gibt es weniger Bedenken um Privatsphäre oder rechtliche Einschränkungen. Und natürlich hat China auch die sogenannte zivil-militärische Fusionsstrategie implementiert, die es der Regierung ermöglichen wird, zivile Technologien für nationale Verteidigungszwecke zu nutzen.
In den USA herrscht ein anderes System vor: Programmierer müssen aufpassen, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen oder in die Privatsphäre der Bevölkerung einzudringen. In anderen Bereichen sind sie jedoch weniger eingeschränkt: Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass sie die roten Grenzen der Regierung überschreiten. Sie können offener sein.
Anders als das chinesische Militär, das Zeit für Parteiversammlungen aufbringen muss, jede wichtige Rede der Führer studieren und alle möglichen Arbeiten für die Umsetzung der Parteipolitik erledigen muss. Nicht zuletzt haben US-Privatunternehmen manchmal stärkere Anreize, mit dem Militär zusammenzuarbeiten – ohne befürchten zu müssen, dass ihre Patente von der Regierung willkürlich genommen werden, ohne dass sie davon finanziell profitieren.
Partei mit Widerspruch - Der Sinologe Felix Wemheuer über 100 Jahre Kommunistische Partei Chinas
Wie lautet Ihr Fazit: Ist es nur mehr eine Frage der Zeit, bis das chinesische Militär die USA als Nummer 1 überholt?
Ich kann mein Verständnis darüber darlegen, wie die Chinesen denken: Letztlich entscheidet die wirtschaftliche Macht über die militärische Macht. Wenn Chinas Wirtschaft also die US-Wirtschaft in Zukunft überholen kann, wird Chinas Militär früher oder später ebenfalls dominieren. Und nach Einschätzung westlicher Wissenschaftler wird die chinesische Wirtschaft bereits 2028 an den USA vorbeiziehen. Das stimmt die Regierung zuversichtlich, dass die Zeit auf ihrer Seite ist. Deshalb setzt die chinesische Führung auch so stark auf wirtschaftliche Entwicklung: Denn die bestimmt alles andere.
In Europa argumentiert insbesondere die Linke, dass China ja nur einen einzigen Militärstützpunkt im Ausland habe und nicht als Bedrohung dämonisiert werden dürfe. Ist das naiv?
Kein Land entwickelt militärische Macht mit dem ausdrücklichen Ziel, andere Länder zu erobern. Alle Staaten, auch China, wollen nur ihre vermeintlichen nationalen Interessen verteidigen. Aber die Frage ist doch: Ist es wirklich legitim, jene Interessen mit militärischen Mitteln zu verteidigen? Etwa wenn ein Land einen Territorialstreit hat: Ist es dann in Ordnung, wenn es einfach seine militärische Macht nutzt? Oder sollte nicht das Völkerrecht eine Rolle spielen?
Kommen wir zu China zurück: Peking sieht eine mögliche US-Militärintervention als größte Bedrohung an. Aus diesem Grund glaubt die Regierung auch, eine Militärmacht aufbauen zu müssen, die ausreichend stark ist im Vergleich zu Washington und all seinen Verbündeten in der Region. Das Ziel ist zwar Selbstverteidigung. Dennoch kann Chinas Ansatz von anderen Ländern als ehrgeizig angesehen werden, da Peking eine Art militärische Überlegenheit in der Region aufbauen muss, um dieses defensive Ziel zu erreichen.
Und was passiert, wenn China dieses Ziel erreicht hat?
Dann wird Chinas militärische Überlegenheit die USA und ihre Verbündeten de facto davon abhalten, einzugreifen, wenn China seine nationalen Interessen durchsetzt. Nehmen wir das Beispiel Taiwan: Die Forderung nach nationaler Vereinigung mit Taiwan ist ein wichtiges Ziel der aktuellen politischen Führung. Ich glaube jedoch nicht, dass man einen verfrühten Konflikt anzetteln möchte. Solange nach wie vor Zweifel bestehen, ob die USA intervenieren können, ist Chinas Militär noch nicht stark genug. Wenn China jedoch eine offensichtliche militärische Überlegenheit erlangt hat, werden die USA wissen, dass sie diesen Konflikt nicht gewinnen können. Zu diesem Zeitpunkt kann China sein Ziel erreichen, ohne einen Schuss abzufeuern.
Und die jüngsten Entwicklungen haben Chinas Denken bestätigt: Da es bereits eine gewisse militärische Macht gesichert hat, brauchte es sich keine Sorgen vor einem gewaltsamen Eingriff aus dem Ausland zu machen, als es Maßnahmen zur Bewältigung der Situation in Hongkong ergriff.
Halten Sie einen militärischen Konflikt zwischen den USA und China für ein realistisches Szenario?
Ich glaube nicht, dass China die Absicht hat, einen Konflikt zu provozieren. Die Priorität der Staatsführung ist klar: Es braucht Zeit, um eine umfassende nationale Macht aufzubauen. Und wenn Chinas Macht stark genug ist, kann es seine vermeintlichen Interessen verteidigen, ohne weiter kämpfen zu müssen.
Könnten bilaterale Abrüstungsverhandlungen dabei helfen, das Wettrüsten zwischen den zwei Weltmächten einzudämmen?
Ich bin da sehr pessimistisch. Beide Seiten können nicht einmal mehr in grundlegenden Sachfragen eine Einigung erzielen, zum Beispiel über die Provinz Xinjiang. Der Westen glaubt aufrichtig, dass sich dort eine schreckliche humanitäre Krise ereignet. In China hingegen glauben die meisten Experten, dass diese vollständig von westlichen Medien erfunden wird, und dass die Regierungsmaßnahmen in der Region gegen keine rechtlichen oder moralischen Standards verstoßen.
Stattdessen glauben sie, dass der Westen China absichtlich dämonisiert – etwa in Bezug auf Hongkong, Xinjiang oder Taiwan – und zwar nicht, weil man sich um Demokratie oder Menschenrechte schert, sondern aus Sorge, dass China den Westen im internationalen System als dominierende Macht ablösen könnte. Wenn sich die beiden Seiten in solchen Sachfragen nicht mal mehr einigen können: Wie können sie dann eine gemeinsame Lösung zur Abrüstung entwickeln?
Welchen Weg wird China stattdessen im Umgang mit dem Westen wählen?
Der Trend ist besorgniserregend: China hält es für nutzlos, mit dem Westen zu reden und im Dialog zu überzeugen. Vielmehr ist die Staatsführung davon überzeugt, dass sie die Meinung der westlichen Länder nur dadurch ändern kann, indem sie ihre Macht aufbaut. Denn Macht ist das Einzige, was der Westen respektiert. Dies bedeutet auch, dass es keinen innerchinesischen Konsens über Abrüstungskontrollen gibt, die Chinas militärische Entwicklung beschränken würden.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.