Werbung

Abschiebung, Flucht und Realitätsferne

Deutschland hält an abstruser Abschiebepraxis fest und lässt afghanische Ortskräfte im Stich

  • Michael Trammer und Daniel Lücking
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Flughafen Hannover wirkt am Dienstagabend wie ausgestorben. Nur wenige Flugreisende und Bodenpersonal sind in den Schalterhallen. »You are not alone, ihr seid nicht allein«, ruft eine größere Gruppe Menschen vom Parkdeck des Terminal C. Groß, steht auf einem Banner: »Gegen jede Abschiebung.« In Sichtweite, hinter einem mit Nato-Draht verstärkten Zaun, finden gerade die Vorbereitungen für die 40. Sammelabschiebung nach Afghanistan statt. Ein großer Gefangenentransporter steht dort geparkt. 27 Männer schiebt Deutschland an diesem Abend ab. An der Maßnahme beteiligen sich nach Angaben des Bundesinnenministeriums acht Bundesländer (Brandenburg, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen). Nach deren Angaben handelt es sich bei fast allen Zurückgeführten um Straftäter, so eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums.

Einer der Abgeschobenen ist Said M.. Sein Anwalt Phillip Pruy aus Regensburg, erzählt am Telefon, M. sei 2015 als Minderjähriger nach Deutschland gekommen. 2019 sei dann letztendlich sein Asylantrag abgelehnt worden. Die gesamte Zeit habe er als Landschaftsgärtner gearbeitet und Anfang September einen Ausbildungsplatz zum Krankenpfleger in Aussicht gehabt. Sein Mandant sei außerdem verlobt, für die Hochzeit fehle nur noch ein Dokument.

Zum Ende der Duldung und damit zur Abschiebung geführt hätten laut Pruy zwei Eintragungen wegen »Fahren ohne Fahrerlaubnis« - Verkehrsdelikte also. Einen vergangene Woche gestellten neuen Asylantrag, aufgrund der akut verschärften Sicherheitslage vor Ort, hätten das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und das Verwaltungsgericht Regensburg abgewiesen. »Es ist skandalös, dass sowohl das BAMF als auch das Verwaltungsgericht Regensburg die geänderte Sicherheitslage einfach ignorieren«, so Pruy. In anderen Fällen konnten Anwält*innen Abschiebungen in letzter Minute verhindern.

So stoppte, laut dem Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung die Abschiebung eines in Lübeck lebenden Afghanen. Das Verwaltungsgericht Oldenburg setzte laut niedersächsischem Flüchtlingsrat eine Abschiebung aus. In Hamburg wurden zwei Abschiebungen gestoppt. Beinahe täglich verschlechtert sich die Sicherheitslage vor Ort. Auf dem Global Peace Index liegt Afghanistan auf Platz 163. Nach UN-Daten mussten zwischen Anfang Mai und Ende Juni fast 84 000 Menschen innerhalb des Landes vor den Kämpfen aus ihren Dörfern und Städten fliehen. Täglich kommen Zivilist*innen in dem Konflikt im Kreuzfeuer bei Gefechten, durch Bomben am Straßenrand oder auch durch gezielte Tötungen ums Leben.

Einzeln werden die Männer am Flughafen Hannover von Polizisten in eine Halle geführt. Stunden dauert die Vorbereitung. Polizisten tragen Matten mit Griffen und Handfesseln mit zusätzlichen Bändern zur Fixierung zu ihren Autos. Die Arme eines jungen Mann sind in medizinische Bandagen gewickelt, seine Hände gefesselt. Als er über das Rollfeld geführt wird, versperrt ein Polizist mit der Hand seinen Blick auf die solidarischen Aktivist*innen.

Dem Aufruf verschiedener Gruppen, am Dienstagabend direkt vor Ort den Unmut über die erneute Sammelabschiebung zum Ausdruck zu bringen, folgen etwa 100 Menschen. »Wir stehen heute hier, um ein Zeichen zu setzen, gegen eine unmenschliche, menschenverachtende Abschiebepraxis. Gegen den rassistischen Normalzustand, der es uns erlaubt, mit Solidarität zu prahlen, und doch die Augen zu verschließen vor den Dingen, die an und hinter den europäischen Außengrenzen geschehen«, so eine Rednerin der Seebrücke Hannover. Die 27 Männer, die die Maschine am frühen Morgen in Kabul verlassen, müssen vor Ort Verfolgung fürchten, wie eine Studie belegt. Said M. aus Regensburg sei in Kabul vorerst bei einem Freund untergekommen, so sein Anwalt. Kritik an der Abschiebepraxis gibt es von zahlreichen Initiativen, Menschenrechtsaktivist*innen und Vereinen.

Bei Abschiebungen nicht abschreiben - Fabian Hillebrand über die neueste Variation einer zweifelhaften Forderung – diesmal wieder aus der SPD

Erstmals seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan haben die militant-islamistischen Taliban eine Provinzhauptstadt angegriffen. Es gebe Gefechte in Kala-e Nau, der Hauptstadt der Provinz Badghis im Westen des Landes, bestätigten mehrere Behördenvertreter der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch.

Das Unterstützernetzwerk der lokalen Helfer der Bundeswehr in Afghanistan hat das Vorgehen der deutschen Behörden in Folge des Truppenabzugs vom Hindukusch scharf kritisiert. »Es ist furchtbar, was hier passiert«, der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, Marcus Grotian, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). »Ich kann das moralische Versagen, das ich hier wahrnehme, nicht in Worte fassen.«

Das Mahnmal Hindukusch - Daniel Lücking zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan

Aus Afghanistan kontaktieren auch ehemalige Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) die Hilfsgruppen und schildern, die Gründe für ein nicht gewährtes Asyl nicht nachvollziehen zu können.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.