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Für Würstchen und protestantische Identität
Nordirlands Unionisten bekämpfen das Brexit-Protokoll, könnten aber erstmals die Macht verlieren
Der 12. Juli ist der wichtigste Tag des Jahres im Kalender der protestantischen Unionisten Irlands. Im Jahr 1690 siegte der protestantische Thronanwärter William von Oranien über den Katholiken James II. in der Schlacht am Fluss Boyne. Damit wurde die protestantische Herrschaft über Irland zementiert.
Bis heute feiern Unionisten dieses Ereignis: Zehntausende Mitglieder des rassistischen Männerbundes Orange Order marschieren dann durch Nordirland, angeführt von Blaskapellen, die anti-katholische Lieder spielen. Diese Provokationen führen bei den Aufmärschen immer wieder zu Randalen.
In der Nacht vor dem 12. Juli werden in ganz Nordirland meterhohe Palettentürme angezündet. Darauf werden unterschiedliche Symbole drapiert und verbrannt, die die Unionisten ablehnen: irische Fahnen, Bilder der IRA-Hungerstreikenden um Bobby Sands, Sinn-Féin-Plakate, aber auch Bilder des Papstes und von EU-Politikern - denn Brüssel ist genauso verhasst wie Dublin.
Es ist ein Schauspiel, das sich so seit Jahrzehnten jedes Jahr wiederholt. In diesem Jahr hat der 12. Juli ein höheres Gewaltpotenzial als sonst, er fällt direkt mit der schwersten Krise des Unionismus seit dem Ende des Nordirlandkonflikts zusammen. Vor fünf Jahren stimmte die Mehrheit der Nordiren gegen den Brexit, die Unionisten stimmten aber dafür. Das Brexit-Protokoll, in dem Nordirland einen Sonderstatus erhielt, erhitzt noch immer die Gemüter.
Ende Juni konnte in Verhandlungen zwischen London und Brüssel ein drohender »Wurstkrieg« abgewendet werden. Dabei ging es um die Ein- und Ausfuhr von nicht-tiefgefrorenen Fleischprodukten. Ein Verbot hätte die Einfuhr britischer Würste nach Nordirland unmöglich gemacht. Zwei Schweine- oder Rinderwürste sind ein integraler Bestandteil des nordirischen Frühstücks. Der Ulster Fry wird, anders als das englische oder irische Frühstück, nicht mit Bohnen in Tomatensoße, dafür aber mit einer breiten Palette an frittiertem Sodabread angerichtet. Der Ulster Fry ist Teil der nordirisch-britischen Identität - und genau diese Identität sehen die Unionisten bedroht.
Den Blick auf alles richten
Ein extremes Spannungsverhältnis: die Nordirland-Fotobände von Gilles Peress
Mit dem Sonderstatus für Nordirland wird die Region anders behandelt als der Rest des Vereinigten Königreichs. Loyalistische Paramilitärs warnten bereits im März vor einer »Grenze durch die irische See«. Im April kam es zur ersten Randale, als Jugendliche Polizei und katholische Wohnviertel mit Brandsätzen und Wurfgeschossen angriffen. Die größte unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), wurde in eine tiefe politische Krise gestürzt. Arlene Foster musste im April nach über fünf Jahren als Regierungschefin den Hut nehmen, da sie für viele erzkonservative DUP-Mitglieder nicht entschieden genug gegen das Brexit-Protokoll auftrat. Ihr folgte der rechte Hardliner Edwin Poots, der seinen Vertrauten Paul Girvan, ein strenggläubiger Kreationist, zum Regierungschef ernannte. Poots hielt sich nur wenige Wochen, Girvan nur einige Tage im Amt. Am 30. Juni wurde Jeffrey Donaldson zum neuen Parteichef ernannt. Sein wichtigstes Ziel: Weg mit dem Brexit-Protokoll.
Wie alle DUP-Politiker vor ihm wird er daran scheitern. Für Boris Johnson ist Nordirland nicht wichtig genug, um mit Brüssel neu zu verhandeln. Die Krise der DUP wird sich vertiefen und dies könnte zu Neuwahlen im Herbst führen. Die nächsten regulären Wahlen sind für Mai 2022 angesetzt. Egal wann die Wahlen genau stattfinden, laut Umfragen wird Sinn Féin erstmals die stärkste Partei werden. 100 Jahre nachdem ein »protestantischer Staat für ein protestantisches Volk« proklamiert wurde, wird erstmals keine unionistische Partei den Regierungschef stellen.
Dies wäre ein entscheidender Schritt, um Irland wieder zu vereinen und so den Norden zurück in die EU zu bringen. Es wäre aber auch ein Schritt zum Zerfall des Vereinigten Königreichs. Dieses Szenario hatten sich die Unionisten nicht erwartet, als sie 2016 für den Brexit stimmten. Mit Sicherheit wird ein derartiges Szenario schwerere Randale hervorrufen - nicht nur um den 12. Juli.
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