- Kultur
- Sexuelle Identität versus Klasse
Respekt für Katars Arbeiter
Jeja nervt: Die Scheinheiligkeit angesicht der Arbeitsbedingungen in Katar
Ein Vorwurf, der sowohl mir als auch mir politisch Nahestehenden gern und oft gemacht wird, lautet in etwa so: Ständig geht es nur um Trans- und Homosexuelle und andere Schwule, die Sorgen und Nöte eines ehrlichen Arbeiters jedoch haben längst keinen Platz mehr. Das sei irgendwie Verrat an der Arbeiterklasse, wenn es im »nd« ausgebreitet wird. Ich habe für diese Kritik Verständnis, und darum soll es in meiner heutigen Kolumne um kernige, schweißgebadete, muskelbepackte Arbeiter gehen, deren Anliegen von Schwulenrechten verdeckt werden.
Die Initiative »Liebe kennt keine Pause« hat in dieser Woche ein Videostatement mit Bundeskanzler Olaf Scholz veröffentlicht, in dem es um queere Rechte, aber eben auch um Arbeiter ging - und zwar im Land der Männerfußball-WM 2022, in Katar. Es müsse egal sein, wen man liebe und in welchem Geschlecht man geboren worden sei, so Scholz. Auch die örtliche LGBT-Community solle die Botschaft hören und wissen, »dass wir sie unterstützen«. Und dann erklärte er noch, was ihm »auch wichtig« sei, und zwar »für die vielen Tausend Arbeiterinnen und Arbeiter« in dem Land: »Respekt«. Die würden im Vorfeld des Turniers »unter widrigen Umständen« arbeiten müssen. Stellen Sie sich mein Erbrochenes in allen Farben des Regenbogens vor.
Jeja Klein ist eine dieser Gender-Personen aus dem Internet und nörgelt einmal die Woche an Kultur und Politik herum. dasnd.de/jejanervt
Das Emirat Katar ist so eine Art kleiner Bruder bekannter Halsabschneiderstaaten wie Saudi-Arabien oder Iran. Es nimmt die Sache mit den Menschenrechten nicht besonders ernst. Das erzürnt viele, unter anderem auch Schwule (und, seien wir fair: auch Lesben) aus dem Westen. Und weil in Katar für Homosexualität theoretisch die Todesstrafe verhängt werden kann, haben schwule, westliche Männerfußballfans nämlich ein Problem. Beim Stadionbesuch im Emirat dürften sie ihre Liebe zueinander nicht zeigen. Weitsichtig bemerkte das auch eine Journalistin, die 2010, im Jahr der WM-Vergabe, prompt den damaligen Fifa-Chef Sepp Blatter auf einer Pressekonferenz konfrontierte. Der wiederum schmunzelte den betreffenden Fans entgegen, sie sollten sich beim Trip nach Katar einfach »von sexuellen Aktivitäten fernhalten«. Sie verstehen: deshalb »Liebe kennt keine Pause«. Schwulenrechte, einfach universal und unteilbar.
Ein Bericht von Amnesty International vom vergangenen Sommer (der, in dem wir unsere Fußballarenen wegen Schwuler in Ungarn regenbogenfarben angestrahlt haben) hat mehr als 15 000 verstorbene Arbeiter in Katar zwischen 2010 und 2019 gezählt. Den Hinterbliebenen sagte man meist, ihre Angehörigen seien an einer »natürlichen« Ursache verstorben. Da habe einfach das Herz aufgehört zu schlagen, zum Beispiel.
Solche Todesmeldungen ergingen jedoch nicht an katarische Familien, sondern an solche in Pakistan, Bangladesch, Indien, Nepal, Sri Lanka, Kenia oder auf den Philippinen. Denn bei den in katarischer Gluthitze zu Tode Geschundenen handelt es sich um Arbeitsmigranten, die Ärmsten aus armen Ländern. Die Tatsache, dass diese Männer formal freiwillig auf die Arabische Halbinsel gekommen sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine mörderische Verschleppung biblischen Ausmaßes handelt - finanziert von katarischen Petrodollars und der Fifa und zu unserem Vergnügen.
Nun ist es das eine, wenn Leute, die freiwillig SPD wählen, sich von Stimme und Faust der Nation Olaf Scholz mehr »Respekt« versprechen lassen. Es handelt sich dort um einen klassischen Fall mangelnden Selbstrespekts, den zunächst einmal beheben müsste, wer auch von anderen Respekt einfordern will. Etwas fundamental anderes ist es jedoch, in eine in Gang gesetzte Mordmaschinerie zu treten und auf den Gräbern der verächtlich Gemachten dieser Erde trampelnd für diese mehr »Respekt« zu fordern. Das kapitalistische Patriarchat ist ein den Erdball umspannendes System des Kannibalismus unter Menschen: Reiche fressen Arme fressen Ärmere fressen noch Ärmere. Liebe ohne Pause hieße, das Mordschauspiel Fußball-WM als das zu benennen, was es tatsächlich ist. Da können Schwule und Arbeiter ja mal an einem Strang ziehen. Deal?
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.