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Kühler Abschied in Berlin
Unstimmigkeiten belasten das Treffen des ukrainischen Präsidenten mit der scheidenden Bundeskanzlerin
Eigentlich wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel spätestens nach der russischen Annexion der Krim 2014 zur wichtigsten Verbündeten der Ukraine. Kaum ein ausländischer Staatschef hat sich derart intensiv mit Kiews Problemen beschäftigt; bei den Verhandlungen um den Krieg im Donbass spielte Merkel eine prägende Rolle. Zwar gilt das von ihr mit initiierte Minsker Friedensabkommen aus Kiewer Sicht nicht als perfekt, jedoch verhinderte es in der kritischen Phase des Konflikts eine Ausbreitung der Kampfhandlungen.
Bei aller Sympathie für die Kanzlerin: Die Atmosphäre vor Merkels wohl letztem persönlichen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Montag in Berlin war so gedrückt wie nie zuvor. Zwar bemühte das ukrainische Außenministerium unbeirrt seine Lieblingsfloskel, dass man stets sehr dankbar sei für Berlins Hilfe. Doch für die wachsende Unzufriedenheit mit Deutschland fand Kiew zuletzt immer deutlichere Worte. So kam die deutsch-französische Initiative von Ende Juni für einen EU-Russland-Gipfel überhaupt nicht gut an. Außenminister Dmytro Kuleba bezeichnete den Vorstoß von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als »einen unangenehmen und unerwarteten Angriff« und verwies auf den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze vom Frühjahr .
Am meisten werden Kiews Beziehungen zu Deutschland aber durch das Dauerstreitthema Nord Stream 2 belastet. Der Bau der Ostsee-Pipeline befindet sich derzeit im Endstadium und könnte bis Ende August abgeschlossen werden. Die Ukraine lehnt das Projekt sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus sicherheitstechnischen Gründen ab. Bereits der aktuelle, bis 2024 gültige Transitvertrag bedeutet aus Sicht des staatlichen Energiekonzerns Naftohas die Reduzierung der russischen Transitmengen, was das ukrainische Gas-Transportsystem vor Schwierigkeiten stellt. Im Falle eines kompletten Ausfalls der Durchleitung drohen der Ukraine nach eigenen Angaben Verluste in Höhe von bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Sicherheitspolitisch betrachtet Kiew den Gas-Transit durch die Ukraine als eine Art Garantie dafür, dass sich Russland militärisch nicht noch stärker im Osten des Landes engagiert. »Dadurch wurde Moskau davon abgeschreckt, die Aggression größer anzulegen«, sagt Naftohas-Chef Jurij Witrenko, »der Start von Nord Stream 2 würde diese Ausgangslage deutlich verändern«. Daher drängt das Büro von Präsident Selenskyj für den schlimmsten Fall auf juristische Sicherheitsgarantien von Deutschland. Berlin geht darauf jedoch nicht ein und soll mit den USA bereits an einem Hilfsplan für die Ukraine arbeiten, der unter anderem einen Ausgleich für die entgangenen Transitgebühren vorsieht. Dennoch hält die Ukraine offiziell weiter an der Überzeugung fest, den Start von Nord Stream 2 noch stoppen zu können.
Der mögliche Hilfsplan gehört zu den wichtigsten Aspekten des Treffens in Berlin. Dabei geht es neben dem möglichen Ausgleich der entgangenen Transitgebühren auch um größere Investitionen in das Gas-Transportsystem, um dieses fit zu machen für die Lieferung von Wasserstoff in die EU. Der Export von Wasserstoff und Biogas gehöre zu den künftigen Prioritäten der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine im Energiebereich, erklärt Jurij Witrenko. Mögliche Verhandlungen über Kompensationszahlungen lehne er vorerst ab: »Es geht nicht nur um Verluste. Die Ukraine meldet sich einfach mit der Frage, wie wir die Sicherheit auf unserem Gebiet kontrollieren können.« Der ukrainische Außenminister Kuleba schließt solche Verhandlungen allerdings nicht mehr ganz aus.
Jedenfalls ist Selenskyjs Hoffnung illusorisch, Deutschland zur großen Kehrtwende in Sachen Nord Stream 2 zu bewegen. Die Bundesregierung bestätigte am Montag noch einmal ihre Position, an der Pipeline unverändert festzuhalten. Dies sei der Ukraine auch bekannt. Ein herzliches letztes Treffen zwischen Merkel und Selenskyj wird es also wohl nicht, zumal auch die persönlichen Beziehungen der beiden Staatschefs von deutschen und ukrainischen Experten überwiegend als suboptimal beschrieben werden. Die Stimmungslage wird zudem getrübt durch die Lage im Donbass, die traditionell zu den Hauptthemen des Selenskyj-Besuches gehört. Seit dem Scheitern der Waffenruhe von Anfang des Jahres gibt es in dem umkämpfen Gebiet keine Anzeichen für die Umsetzung der Beschlüsse des letzten Gipfels im sogenannten Normandie-Format von Ende 2019.
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