Immer mehr Kinder leben in Armut

Die politischen Maßnahmen der vergangenen Jahre haben die soziale Ungleichheit weiter vergrößert

Die Kinderarmut in Deutschland wächst. Das ist das zentrale Ergebnis einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Während die Armutsquote von unter 18-Jährigen im Jahr 2010 noch bei 18,2 Prozent lag, ist sie bis 2019 auf 20,5 Prozent gestiegen. Das sind rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche.

»Es ist beschämend und erschütternd, wie sich Kinderarmut in diesem reichen Land verschärft und verhärtet. Das Ausmaß und die Entwicklung der Armut von Kindern und Jugendlichen sind nicht nur besorgniserregend, sondern skandalös und ein Ausdruck armuts- und gesellschaftspolitischen Versagens«, kommentiert Joachim Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband die Zahlen. Besonders häufig sind laut der Analyse Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern betroffen. Minderjährige sind zudem öfter von Armut betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung: Die allgemeine Armutsquote lag 2010 bei 14,5 Prozent und stieg 2019 auf 15,9 Prozent.

Als arm galt beispielsweise im Jahr 2019 ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren, wenn es weniger als 2256 Euro im Monat zur Verfügung hat. Alleinerziehende mit denselben Kindern galten in diesem Jahr bei unter 1718 Euro im Monat als arm. Zwar ging von 2010 bis zum Beginn der Corona-Pandemie die Anzahl der Menschen, die auf Hartz-IV-Regelleistungen zugreifen mussten, zurück. Allerdings stieg im selben Zeitraum die Einkommensarmut von 14,5 auf 15,9 Prozent. Dieselbe Entwicklung treffe laut der Studie auch auf Kinder und Jugendliche zu.

»In den öffentlichen Berichten über Kin-derarmut findet sich zuweilen eine positive Bewertung. Diese Berichte finden ihre empirische Rechtfertigung in rückläufigen Hartz-IV-Zahlen«, so die Studienautoren. Ende 2010 lebten noch circa zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Familien, die Hartz IV bezogen. Zehn Jahre später waren es nur noch 1,85 Millionen. Diese Entwicklung ist laut dem Paritätischen jedoch lediglich die Folge der demografischen Verschiebung: Es gibt weniger Kinder und Jugendliche. Zeitgleich zeige sich bei der Einkommensarmut sogar eine deutliche Verschlechterung. 2010 waren deutlich unter 2,5 Millionen Minderjährige davon betroffen, bis 2019 stieg die Einkommensarmut dann auf fast 2,8 Millionen an.

In der Studie wurden auch Unterschiede der Kinderarmut zwischen den Bundesländern untersucht. Während sich die Lage in den neuen Bundesländern positiv entwickelt, würden die Probleme in verschiedenen westdeutschen Ländern wie Bremen, Hessen, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen teilweise dramatisch wachsen. Aber auch zwischen den westdeutschen Bundesländern gibt es große Unterschiede. Im Jahr 2019 waren in Bremen 42,2 Prozent der Kinder einkommensarm, in Bayern lediglich 13,1 Prozent. Die regionale Diskrepanz habe sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts sogar noch vergrößert.

Der Paritätische kritisiert die Leistungen der Grundsicherung als »deutlich zu niedrig bemessen« und attestiert ergänzende familienpolitische Maßnahmen als »nicht ausreichend, um Familien und Kinder effektiv vor Armut zu schützen«. Zwar habe sich ein umfangreiches System der Familienförderung, bestehend aus einem komplexen Set von steuerlichen Maßnahmen, sozialen Transfers und sozialen Dienstleistungen, etabliert. Allerdings gebe es sogar ungleichheitsverstärkende Wirkungen der Familienpolitik, etwa durch den Freibetrag für Kinder im Steuerrecht. Dieser führt bei den einkommensstärksten Familien mit bis zu 330 Euro zu einem deutlich höheren Nettozuwachs beim Einkommen als das Kindergeld bei weniger einkommensreichen - sie bekommen im Jahr 2021 beispielsweise für das erste Kind 218 Euro.

Auch eine andere zentrale und teure familienpolitische Maßnahme der aktuellen Regierung kommt in der Studie nicht gut weg: Die Kindergelderhöhung. Diese kommt bei Familien in der Grundsicherung überhaupt nicht an, da sie mit der Grundsicherung komplett verrechnet wird.

»Jüngere Reformen bei Leistungen wie Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss holen zwar verstärkt Familien mit Kindern aus dem SGB-II- Bezug, aber sind mitnichten armutsfest«, erläutert Andreas Aust, Leiter der Studie von der Paritätischen Forschungsstelle. Generell wird in der Analyse festgestellt, dass die »nachhaltige Familienpolitik« der Bundesregierung nicht das explizite Ziel habe, einen Ausgleich zwischen einkommensreichen und -armen Familien zu schaffen. Stattdessen zielen die Maßnahmen darauf ab, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren und dass sich die Einkommen der Familien bis 2030 parallel zu den Einkommen der Haushalte ohne Kinder entwickeln.

In der Studie wird außerdem vor einer weiteren Verschärfung der Kinderarmut durch die Corona-Pandemie gewarnt. Haushalte mit Kindern seien in besonderer Weise betroffen. Insbesondere für Familien, die von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen sind, führte die Pandemie zu Einkommensverlusten, finanziellem Stress, Unsicherheit, Sorgen und Ängsten. Der Paritätische fordert unter anderem die Einführung einer bedarfsgerechten einkommensabhängigen Kindergrundsicherung. Zudem müsse sowohl am Arbeitsmarkt wie auch bei der Grundsicherung angesetzt werden. Und auch Verteilungsfragen müssten neu diskutiert werden. So heißt es in der Studie: »Alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen, kommen auch Familien und damit Kindern zugute.«

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