Eine kleine Geschichte des Bettelns

Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wie sie mit »ihren Armen« umgeht? Über Vagabunden und Tippelbrüder in der Antike, im Nationalsozialismus und in unserer Gegenwart

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 10 Min.

Als Habenichts war Odysseus schmutzig und hässlich, sodass ihn bei Hofe allein Argos, sein treuer Hund, erkannte - und vor lauter Glück verstarb. Umso lebendiger zeigten sich die vielen Freier, die, weil sie Odysseus für tot hielten, seine Frau Penelope bedrängten und sein Hab und Gut verprassten. Das Ende der Geschichte ist bekannt: Der aggressive Bettler konnte in letzter Minute seine Ehe retten …

Einmal abgesehen von dem Blutbad, das der heimkehrende König da auf Ithaka angerichtet haben soll, erscheint uns der Umstand außerordentlich bemerkenswert, dass ihn seine Beschützerin, Pallas Athene, ausgerechnet in einen Bettler verwandelte. Als solcher - und nicht etwa als Händler, Bauer oder Soldat - sollte Odysseus nach göttlicher Fügung unerkannt an den Hof gelangen. Als mittelloser Fremder musste er nicht draußen vor dem Tor ausharren, nicht in nächtlicher Kälte um Almosen wimmern. Nein, wie selbstverständlich hatten die Wachen den Bettler auf das Palastareal gelassen. Merkwürdig auch, dass von den Leuten am Hof, die Odysseus um Essen bat, niemand sagte: »Alter, geh arbeiten!« Oder: »Verschwinde! Wir haben kaum genug für unsere eigenen Leute!«

Kurzum: In der alten Welt besaßen Schnorrer, Gaukler und Tippelbrüder einen erheblich besseren Ruf. Damals, als die Menschen noch glaubten, die Götter würden als Bettler verkleidet auf die Erde kommen und sie auf die Probe stellen; als fahrende Musikanten noch Hellseher und Huren Hetären waren und selbst der Beruf des Henkers noch Ehre und Ansehen mit sich brachte, nur von Priestern ausgeübt werden durfte. Aber das ist lange her. Die Gesellschaft der Antike teilte sich nach Platon auf in Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, also in Bauern, Händler und Handwerker; Krieger und Soldaten sowie schließlich Philosophen, Priester und Lehrer. In diesem Gemeinwesen fristeten die Armen und Schwachen keineswegs ein Schattendasein: In der Ekklesia, der Volksversammlung der Athener, dem Herzstück der attischen Demokratie , die ihre Blüte im 5. Jahrhundert vor Christus erlebte, saßen womöglich Hunderte Bettler. Für eine Aufwandsentschädigung in Höhe eines Tageslohnes sorgten sie dafür, dass das notwendige Quorum von 6000 Bürgern erreicht wurde. Die Teilnehmer der Ekklesia mussten nur allesamt Männer sein, die ihren Militärdienst abgeleistet hatten. In diesem ersten »Parlament« kam den armen Schluckern das gleiche Stimm- und Rederecht zu wie den gut betuchten Bürgern.

Und auch wenn es im alten Athen Zehntausende Menschen gab, die von der Mitbestimmung ausgeschlossen waren (Frauen, Sklaven und zugezogene Fremde), so hat es doch seither nie wieder eine Gesellschaft gegeben, die einen derart hohen Grad an politischer Partizipation vorweisen konnte. Mindestens sechs Prozent der Bevölkerung waren im alten Athen ständig mit den Geschicken der Polis, ihrem Stadtstaat, beschäftigt. Man stelle sich das für die Gegenwart vor: Die Bundesrepublik Deutschland hätte beinahe fünf Millionen Menschen im Bundestag, die über Krieg und Frieden entscheiden und freilich auch über die Höhe der Steuern! Oder dass in Berlin über 200 000 Leute im Abgeordnetenhaus sitzen, darunter regelmäßig 3000 bis 4000 Unbehauste, Schnorrer und U-Bahn-Musiker! Ein solches Parlament wäre sicher etwas chaotisch und nicht immer beschlussfähig, aber es würde vielleicht auch keine Milliarden für irgendwelche sinnlosen Großprojekte verschwenden, wie etwa den BER-Großflughafen.

Almosen als Garantie fürs Jenseits

Doch zurück zur Geschichte der Bettler. Mit dem Siegeszug des Christentums hätte eigentlich ihre große Stunde schlagen müssen; immerhin war Jesus selbst als Schnorrer unterwegs gewesen. Oder steht irgendwo geschrieben, dass der Heiland für seinen Lebensunterhalt einer festen Arbeit nachging, etwa in der Zimmerei seines Vaters? Jesus, der die Nähe von Aussätzigen und allerhand lichtscheuem, vermeintlichem Gesindel suchte, lebte mit seinen Jüngern selbstverständlich von Almosen. Und noch im Frühmittelalter galt die Armut Christi als Folge seines freiwilligen Verzichts auf Göttlichkeit und Königswürde, sie war also Ausdruck der Menschwerdung Gottes. Nach dem Vorbild Jesu war es für den Einzelnen erstrebenswert, der Macht und der Herrschaft, so man sie besaß, zu entsagen und ein Leben zu führen ohne eigenes Haus, in ärmlicher Kleidung und mit schlimmen Entbehrungen. Und wer nicht in Armut leben wollte, hatte gefälligst barmherzig zu sein.

Die Menschen im Mittelalter hatten, wenn man so will, eine bei Weitem längere Lebenserwartung; das irdische Jammertal galt ihnen nur als Vorspiel für das eigentliche Leben nach dem Tod. Und die Bettler boten ihnen die Möglichkeit, etwas in ihre Zukunft zu investieren, denn der liebe Gott sah alles. Das Geben von Almosen war ein probates Mittel zur Abbüßung der Sünden und wurde als Austauschverhältnis begriffen: Verzicht im Diesseits gegen eine Belohnung im Jenseits. Dem heiligen Eligius wird der Satz zugesprochen: »Gott hätte alle Menschen reich erschaffen können, aber er wollte, dass es auf dieser Welt Arme gibt, damit die Reichen Gelegenheit erhalten, sich von ihren Sünden freizukaufen.«

Gleichwohl der übergroße Teil der frühmittelalterlichen Gesellschaft nach heutigen Kriterien als arm gelten würde - die meisten Menschen haben sich allenfalls zweimal im Jahr richtig satt essen können - hatten die Leute offenkundig keine Probleme mit denjenigen, die freiwillig oder unfreiwillig von Unterstützung lebten. Mehr noch, Betteln galt allgemein als Arbeit; die Bettler mussten schließlich den ganzen Tag für ihre Gönner beten. Dabei erschien das Bettelwesen nicht unbedingt als ein einheitlicher Stand: Die einen kamen als privilegierte Almosensammler daher, mit einem Empfehlungsschreiben von einem Kloster oder Hospital, andere hatten nur ihr Gebrechen, ihre Krankheit vorzuweisen, waren entweder lepros oder blind, beinamputiert oder bucklig. Die einen sprachen die »guten Leute« auf der Straße an, die anderen in den Kirchen und das sogar während der Gottesdienste. Die Armenfürsorge des frühen Mittelalters lag nahezu vollständig in den Händen der Klöster, Orden und Kirchen. Diese hatte seit der Zeit Karls des Großen mindestens ein Drittel ihrer Einkünfte für die Armen zu verwenden. (Zum Vergleich heute: Caritas und Diakonie finanzieren sich und ihre Leistungen größtenteils aus dem Staatshaushalt beziehungsweise aus Spenden und so gut wie überhaupt nicht aus der Kirchensteuer.) Wie es das Neue Testament vorsieht, verteilten mittelalterliche Priester und Nonnen Almosen an die Bedürftigen, pflegten die Kranken - und das unabhängig von deren Herkunft. Um Hilfe zu erfahren, war es egal, woher der Mensch in Not stammte. Nie wieder lagen Theorie und Praxis der Sozialarbeit in einem solchen Einklang: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« (Mt. 25,40)

Doch schon im 12. Jahrhundert wurde unterschieden in die »Armen mit Petrus« (pauperes cum Pedro) und die »Armen mit Lazarus« (pauperes cum Lazaro), also in freiwillige und unfreiwillige Bettler. Daraus sollte schon bald die Einteilung in Schuldige und Unschuldige und schließlich in Hiesige und Fremde erwachsen. Mit Beginn der Neuzeit, das heißt mit dem Buchdruck, der Reformation, der »Entdeckung« Amerikas und dem Ende des Byzantinischen Reiches, stieg die europäische Bevölkerung rasant an. Die Produktivität in der Landwirtschaft konnte nicht mithalten, es kam zu extremen Hungersnöten. Nürnberg erließ schon um 1370 eine erste Almosenordnung, die dem vermeintlichen Berufsbettelunwesen Schranken setzen sollte. Andere Städte folgten mit Verordnungen zur Regelung der Aufenthaltsdauer in der Stadt, erließen Bettelplätze sowie Sperrbezirke. Zudem konnte in jeder größeren Stadt ein so genannter Bettelvogt die Ausweisung für arbeitstaugliche Bettler verfügen, wie auch Strafen für aggressives Almosenheischen und unsittliches Auftreten. Mit anderen Worten: Armut und Reichtum wurden in der Gesellschaft neu bewertet - als Stigma. Auf einmal liebte der Allmächtige nur noch die Erfolgreichen, die Fleißigen. Und Armut galt nicht mehr als ein von Gott gewollter Zustand, sondern als Folge menschlichen Versagens.

Erinnerung an Gregor Gog

Das ist eine neue Geschichte, unsere Geschichte. Sie erzählt von Arbeitshäusern, Vertreibung und Bestrafung. Im Nationalsozialismus etwa mussten für die »Sonderbehandlung« und Ausgrenzung sogenannter Asozialer gar keine neuen Gesetze erlassen werden; die bestehenden Fürsorgebehörden kooperierten zur besten Zufriedenheit der Nazis. So wurden im Juni 1938 im Rahmen der so genannten »Aktion Arbeitsscheu Reich« mindestens 200 Landstreicher und Bettler verhaftet und ins KZ Buchenwald eingeliefert. Ihr Schicksal ist heute dem Vergessen anheimgefallen.

»Na, wer kennt denn den Gregor nicht!«, soll Wilhelm Pieck gesagt haben, an jenem Abend im Moskauer Exil, als doch tatsächlich jemand versucht hatte, dem späteren ersten Staatsoberhaupt der DDR den »König der Vagabunden« vorzustellen! So hatte die Presse der Weimarer Republik Gregor Gog genannt, aber auch Sergej Tretjakow in seinem Buch »Menschen eines Scheiterhaufens«. Kennengelernt hatten beide sich in Stuttgart, im Haus des Dramatikers Friedrich Wolf, Gogs Nachbarn. Tretjakow schrieb über das erste 1. Internationale Vagabundentreffen in der Stadt, Pfingsten 1929. Weit über 500 Landstreicher hatten sich damals auf der Wiese des Freidenker-Jugendgartens eingefunden, zum Entsetzen der Behörden. Und Gregor Gog, geboren 1891, Anarcho-Philanthrop und Eulenspiegel in einem, hatte die Eröffnungsrede gehalten: »Generalstreik ein Leben lang!«, hatte er ihnen zugerufen, den Kunden, Tramps und Tippelbrüdern. Doch bald schon gehörte die Straße nicht mehr der »Reservearmee des kämpfenden Proletariats«, von der Gog einst geträumt hatte.

Spät, 1931, tritt er der KPD bei. Zwei Jahre später, beim Machtantritt Hitlers, wird er schwer misshandelt; die Nazis verschleppen ihn in die Konzentrationslager Heuberg, Reutlingen und Ulm. Seine Frau, die kommunistische Schriftstellerin Anni Geiger-Gog, verbringt ebenso mehrere Monate als »Schutzhäftling« in Stuttgarter Gefängnissen und schließlich im Konzentrationslager Gotteszell. Nach ihrer Freilassung im Sommer 1933 kehrt sie nach Stuttgart zurück, wo sie in den folgenden Jahren unter Aufsicht der Gestapo steht. Ihr Mann Gregor wird erst Mitte November entlassen, nachdem die Lagerärzte bei ihm Wirbelsäulentuberkulose festgestellt haben. Der Publizist Klaus Trappmann, der lange Zeit zum Leben und Wirken Gregor Gogs geforscht hat, schreibt, dass Gregor Gog am ersten Weihnachtsfeiertag mit Hilfe des Malers Otto Marquard über den gefrorenen Bodensee in die Schweiz flieht. Anni, seine Frau, bleibt mit dem gemeinsamen Sohn in Stuttgart, wo sie noch ein zweites Mal verhaftet wird. Später wird sie, trotz Schreibverbot, mehrere Kinderbücher veröffentlichen, unter dem Pseudonym Hanne Menken. Gregor Gog aber bleibt auf der Flucht. Die Schweizer Behörden haben ihm zum 10. Juni 1934 die Aufenthaltsberechtigung entzogen. Sein Freund Johannes R. Becher verhilft ihm zu einem Einreisevisum in die Sowjetunion, wo ihn bitterste Armut erwartet. Gog arbeitet einige Zeit als Erzieher in Odessa, schreibt 1935 eine Reportage über die Jugendkommune Dserschinski und bekommt eine Rolle in Gustav von Wangenheims Dimitroff-Film »Kämpfer«. Als Ende 1939 seine Aufenthaltsgenehmigung abläuft, nimmt er die Staatsbürgerschaft der Sowjetunion an. Der einstige Vorsitzende der Internationalen Bruderschaft der Vagabunden wird fortan nicht mehr als politischer Emigrant anerkannt.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verschlechtert sich die soziale Lage vieler Exilanten dort dramatisch. »Genossen!«, schreibt Gregor Gog an die deutsche Sektion der Kommunistischen Internationale: »Ich will nicht wie ein Hund verrecken!« Sein Wirbelsäulenleiden quält ihn. Viel zu spät bekommt er die Einweisung in eine Klinik. »Ich habe kein bisschen Kraft mehr«, lesen wir in einem letzten Brief, »dieses Majdanek von Schmerzen in meinem Körper länger auszuhalten.« Gregor Gog verstirbt im sowjetischen Exil in der Nacht zum 8. Oktober 1945.

Heute: Armut als ästhetisches Problem?

In unserer Gegenwart führt der Wegfall der innereuropäischen Grenzen zu einer neuen Mobilität der Armut, die Sozialsysteme hingegen waren nur für statische Verhältnisse geplant gewesen. Überall hört und liest man von Bettlerbanden, von »Roma-Clans« mit marodierenden Müttern mit Kindern im Arm. In der Schweiz werden bereits Bettelverbote praktiziert, ebenso in einigen Städten Österreichs. Nicht so allerdings in Berlin, wo in einer »Nacht der Solidarität« die Obdachlosen gezählt wurden. Hier regeln die Schnorrer eher untereinander, wer wo betteln darf: Vor ein paar Jahren entblödete sich eine Berliner Obdachlosenzeitung nicht, eine härtere Gangart gegenüber Bettlern aus Osteuropa anzukündigen. Ausgerechnet der Chefredakteur - der durch seine Postille wie kein anderer in der Stadt vom Betteln lebt, ohne selbst schnorren zu müssen - warnte die Migranten unter seinen Verkäufern: »Betrugsversuche und aggressive Betteleien werden registriert und geahndet.« Wie erbärmlich, das Treten nach unten. Und so müsste die Göttin Athene heute für ihren Odysseus eine andere Kostümierung wählen. Denn in der Gegenwart wird Armut vor allem als ein ästhetisches Problem begriffen - hässlich, schmutzig, laut und von auswärts, das geht gar nicht!

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