Mit dem Blick liebevoll wachsamer Augen

Tausende nahmen in Hamburg bei einer ergreifenden Trauerfeier Abschied von der Antifaschistin Esther Bejarano

  • Susann Witt-Stahl
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war ein großer Ansturm trauernder Genossen und Mitstreiter, vor allem Antifaschisten, erwartet worden - und er kam. Zwischen 2000 und 3000 Menschen versammelten sich auf und vor dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf im Norden der Hansestadt Hamburg, um Esther Bejarano das letzte Geleit zu geben. Die Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in Deutschland war am 10. Juli im Alter von 96 Jahren gestorben.

In der vergangenen Woche hatte es bundesweit unzählige Gedenkveranstaltungen der Partei Die Linke, der DKP, des VVN-BdA und anderen linken Parteien und Organisationen gegeben. In Hamburg und anderen Großstädten waren Plakate mit Parolen, wie »Dein Kampf geht weiter« an Häuserwänden zu sehen.

Auf dem Friedhof verabschiedeten sich Musiker von der Sängerin und dem ehemaligen Kopf der Gruppen Coincidence und Microphone Mafia mit »El pueblo unido«, der Hymne des proletarischen Internationalismus. Auf den Trauerbändern vieler Kränze war die Losung »Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!« zu lesen, die für Esther Bejarano seit ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 zum unteilbaren kategorischen Imperativ ihres Lebens geworden war.

Zur Zeremonie in der Trauerhalle, deren religiöser Teil von einem Rabbiner der Jüdischen Gemeinde geleitet wurde, fanden sich neben Familienangehörigen wie Bejaranos Sohn Joram - er sprach auch das Kaddisch, das jüdische Gebet zum Totengedenken - und Freunden, darunter die Journalistin Peggy Parnass, auch Politiker ein. Staatssekretärin Sawsan Chebli war aus Berlin angereist. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) würdigte Bejarano in einer rund dreiminütigen Rede als »außergewöhnliche Bürgerin«, die sich für Demokratie und Gleichberechtigung verdient gemacht habe.

Hauptredner war, wie von Esther Bejarano ausdrücklich gewünscht, Rolf Becker, einer ihrer engsten politischen Vertrauten und Weggefährten. »Ich wollte immer einen beschützenden Bruder haben, und so habe ich mir Dich ausgesucht«, hatte Bejarano ihm vor einigen Jahren in einem Brief geschrieben, aus dem der Schauspieler zitierte.

In seiner rund halbstündigen Ansprache, während der er immer wieder mit den Tränen kämpfen musste, rekapitulierte Becker drei Jahrzehnte gemeinsamer Initiativen und Interventionen, die stets auch als Warnungen davor verstanden werden sollten, »dass sich bei zunehmendem gesellschaftlichem Druck erneut Unsagbares ereignen kann, auch ohne dass Rauch aus Verbrennungsöfen aufsteigt«. Gemäß Bejaranos Lebensmotto »Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen« erzählte er von ihren Protesten gegen die unmenschliche Asyl- und Abschiebepolitik - auch des Hamburger Senats. Ebenso erinnerte er daran, dass Bejarano sich immer wieder darüber entsetzt geäußert hatte, dass in der Bundesrepublik »alles nahtlos« weitergegangen sei, Antikommunismus und die Kriminalisierung von Antifaschisten zur Staatsräson geronnen waren. Auch ihr Engagement für die Beendigung der aggressiven Blockadepolitik gegen Kuba (noch vor vier Jahren hatte sie eine Solidaritätsreise in das sozialistische Land unternommen) versäumte er nicht zu erwähnen.

»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht« - dieser letzte Auftrag, den Bejarano allen fortschrittlichen Kräften mit auf den Weg gegeben hat, habe für sie auch immer gegolten, wenn es darum gegangen sei, die Stimme gegen die Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser zu erheben, so Beckers deutliche Botschaft an rechte Politiker und Akteure aus dem Milieu der sogenannten Antideutschen, die jüdische Linke, die israelische Regierungen kritisieren, pauschal als »Antisemiten« verunglimpfen - eine Verleumdungspraxis, der Esther Bejarano und noch mehr ihr Freund Moshe Zuckermann ausgesetzt waren. Der Historiker, mit dem Bejarano und Becker mehrere Veranstaltungen - darunter das Projekt »›Losgelöst von allen Wurzeln‹ - Eine Wanderung zwischen den jüdischen Welten« - bestritten hatte, konnte pandemiebedingt nicht aus Tel Aviv einfliegen.

»Ich habe Esther geliebt«, so eine der bewegenden Zeilen, die Zuckermann von Rolf Becker verlesen ließ. Bejarano sei »die Verkörperung der Möglichkeit, persönliches Lebensleid« in eine emanzipative Emphase zu übersetzen. Konkret habe das bedeutet, entschieden gegen die bis heute real existierenden bedrohlichen »Bedingungen und Voraussetzungen« einer neuen Menschheitskatastrophe, Militarismus, Imperialismus, Faschismus, einzutreten - ein Engagement, das untrennbar »mit dem Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung« verbunden sei, führte Zuckermann im Gespräch mit »nd« aus. Und er warnte eindringlich davor, dass nach dem Tod der letzten Zeitzeugen der Nazi-Barbarei, die wie Bejarano mit dem unausrottbaren Glauben an die Menschheit für eine bessere Welt gestritten haben, linke Stimmen im Zuge der gegenwärtigen Rechtsentwicklung noch mehr »zum Verstummen kommen« könnten. Gleiches tat Rolf Becker, indem er an Herzensintelligenz und Widerstandsgeist in dem eindringlichen »Blick der liebevoll wachsamen Augen« von Esther Bejarano erinnerte, die sie nun für immer geschlossen hat.

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