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Drückeberger im Landtag

Baden-Württembergs Abgeordnete wählen AfD-Kandidaten in den Verfassungsgerichtshof

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Drei Wahlgänge hat es im Landtag von Baden-Württemberg gebraucht, um den letzten Partei-Kandidaten für den Verfassungsgerichtshof zu bestimmen. Zweimal war Bert Matthias Gärtner im Juli bereits durchgefallen. Schließlich erhielt er am Mittwoch im letzten Wahlgang aber doch 37 Ja-Stimmen. 32 Abgeordnete stimmten mit Nein, 77 enthielten sich. Eine Stimme entfiel auf einen anderen Namen, ein Stimmzettel war wiederum ungültig. Gärtner wurde damit zum stellvertretenden Mitglied ohne Befähigung zum Richteramt gewählt, verkündete Landtagsvizepräsident Wolfgang Reinhart (CDU). Der Bewerber nahm die Wahl an und wurde vereidigt.

Handelte es sich bei dem Prozedere nun um eine bürokratische Formalie oder doch um einen Tabubruch? Gärtner war Kandidat der AfD-Landtagsfraktion. Die Rechtsaußenpartei hat im grün-schwarz dominierten Landesparlament jedoch nur 17 Abgeordnete. Das bedeutet, dass auch 20 Abgeordnete anderer Parteien für ihn gestimmt hatten.

Der Gerichtshof besteht insgesamt aus neun Richtern. Drei davon sind Berufsrichter, drei sind Richter mit Befähigung zum Richteramt und drei sind Personen, die diese Befähigung nicht haben, also Laienrichter. Der Landtag wählt die Mitglieder und ihre jeweiligen Stellvertreter für neun Jahre. Das Gericht entscheidet unter anderem über die Auslegung der Landesverfassung, über Anfechtungen von Wahlprüfungsentscheidungen, über Volksabstimmungen und über Streitigkeiten bei Volksbegehren. Zuletzt mussten sechs Posten - drei Mitglieder und drei Stellvertreter - im Verfassungsgerichtshof neu besetzt werden. Die vier Kandidaten der Grünen und ein CDU-Bewerber waren bereits bestätigt worden. Anfang Juli hatten Grüne, CDU, SPD und FDP gemeinsam die fünf Wahlvorschläge erarbeitet.

Während sich nun auch die AfD über die Bestätigung ihres Kandidaten freut, gibt es unter den anderen Parteien großen Unmut. »Ich bin immer noch entsetzt«, erklärte der SPD-Landtagsabgeordnete Sascha Binder einen Tag nach der Abstimmung. Dass der AfD-Kandidat deutlich mehr Stimmen erhalten habe, als die Partei an Abgeordneten hat, sei für ihn »unverständlich«. Auf das Wahlverhalten seiner eigenen Partei vertraue er hierbei, so Binder. »Für uns als SPD-Fraktion hat gegolten: keinen Fußbreit.«

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis zeigte sich ebenfalls empört. »Die Vorgänge im Landtag schockieren mich«, erklärte die Politikerin. »Wo ist die Brandmauer gegen Rechts?«, fragte sie die Landtagsfraktionen der Grünen- und der CDU. »77 mal Indifferenz und Achselzucken ist keine Haltung, wenn Rechte in die höchsten Staatsämter wollen«, betonte Mattheis. Die Demokratie verteidige man nicht mit »Drückebergern«.

Auch in der nicht im Landtag vertretenen Linkspartei war man wütend. »Fragt sich noch jemand, wie Rechtsextremismus anschluss- und mehrheitsfähig wird? Genau so: Wenn Konservative und Liberale gemeinsam mit der AfD abstimmen und Grüne sich enthalten, wenn Kandidaten einer rechtsradikalen, rassistischen, antisemitischen, unsozialen, marktradikalen Partei in hohe Ämter gewählt werden«, kritisierte der Linken-Abgeordnete Michel Brandt. »Die ›Brandmauer gegen Rechts‹ ist in Wirklichkeit ein 50-Zentimeter-Zäunchen, das einige demokratische Parteien nur zu gerne überspringen«, fügte der Bundestags-Abgeordnete Niema Movassat hinzu.

Die Kritik aus den Reihen der Linkspartei war generell scharf, dürfte einige aber auch an den März 2020 erinnert haben. In Thüringen wurde damals der AfD-Politiker Michael Kaufmann zu einem von fünf Landtagsvizepräsidenten gewählt - auch vom linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Dieser habe nach einer bürokratischen Blockade mit seiner Stimme den Weg frei machen wollen »für die parlamentarische Teilhabe, die jeder Fraktion zugebilligt werden muss«. Aus den Reihen der Linkspartei gab es damals heftige Kritik an Ramelows Entscheidung, auch Parteiaustritte waren die Folge.

Die Grünen-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg - die Gärtner nach eigener Aussage keine Stimme gegeben, sich also enthalten hatte - erklärte ihre Entscheidung in den sozialen Medien mit der Geschäftsordnung des Landtags, nach der die AfD das Parlament bei Ablehnung ihres Kandidaten in immer neue Wahlgänge hätte zwingen können: »Die Folge: eine Nominierungs-Dauerschleife. Tolle Plattform für die AfD.« Doch Kritik gibt es aber auch hier. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir schrieb: »Bei Kandidaten der AfD sagt man ›Nein‹. Immer.« Der Landtagsabgeordnete Alexander Salomon erklärte: »Enthaltungen sind keine Wahl. Es hilft niemanden, wenn man jetzt alles verdreht.« Er selber habe mit »nein« abgestimmt. »Aber ich kann differenzieren und Beweggründe nachvollziehen - das halte ich in einer Demokratie für unabdingbar«. Salomon sprach sich diesbezüglich auch gegen »Schwarz-Weiß-Denke« aus.

Die Ursache des Unmuts, Bert Matthias Gärtner, dürfte zufrieden sein, siegte über demokratische Prinzipientreue eben doch der Pragmatismus. Das frisch gekürte Mitglied des Verfassungsgerichtshofs ist 66 Jahre alt, stammt aus Dresden und lebt seit Mitte der 1990er Jahre in Baden-Württemberg. Er hatte vorwiegend in der Gesundheitsbranche für Beratungsgesellschaften gearbeitet und war zuletzt für die AfD-Landtagsabgeordnete Carola Wolle tätig. Die Frauenbeauftragte der Landtagsfraktion wird in Medienberichten schon mal mit Interview-Aussagen wie »Frauen sind tendenziell unpolitischer« oder »Der Sprachfeminismus schafft ein ›Gedankengefängnis‹« zitiert. Bei den anderen Fraktionen im Landtag warb Gärtner in einem Brief für seine Kandidatur.

Wenn auch derzeit viele Augen auf den stellvertretenden Laienjuristen gerichtet sind, so ist der dahinterliegende Konflikt nicht neu, auch nicht für den Verfassungsgerichtshof von Baden-Württemberg. Erst im Juni 2018 hatte der Landtag die Unternehmensberaterin Sabine Reger zur Richterin bestimmt - vorgeschlagen wurde sie ebenfalls von der AfD-Fraktion. Im zweiten Wahlgang wurde sie mit einer Mehrheit von 30 zu 28 Stimmen gewählt, dazu gab es 65 Enthaltungen. Im ersten Durchgang war sie noch durchgefallen, mindestens zehn Abgeordnete anderer Fraktionen hatten im zweiten Verlauf für sie gestimmt. Reger ist noch bis 2027 im Amt, Gärtner nun bis 2030.

Der Politikwissenschaftler Michael Hein hatte sich auf der Webseite »Verfassungsblog.de« bereits zur Wahl von Reger mit dem Dilemma der Landtage bei der Besetzung von Posten bei gleichzeitigen Ansprüchen der AfD beschäftigt. »Einerseits sollten nur Personen zu Verfassungsrichtern gewählt werden, die sich eindeutig dem Schutz der Grundrechte und des demokratischen Rechtsstaates verschrieben haben. Andererseits soll die überall praktizierte parlamentarische Richterwahl ein adäquates Maß demokratischer Repräsentativität sichern«, so der Forscher zum Grundproblem.

Demokratischen Parteien stünden nur drei Strategien diesbezüglich zur Verfügung: Die Ausgrenzung der AfD, ihre »bedingte Integration« oder ihre vollständige Integration. Bei der bedingten Integration, wie 2018 und nun erneut in Baden-Württemberg angewandt, teilen die Fraktionen das Nominierungsrecht nach dem Proporzprinzip untereinander auf und überlassen es den einzelnen Parteien, für ihre Vorschläge um Zustimmung zu werben. Aus Sicht von Hein ist dieses Vorgehen jedoch für die Bekämpfung extrem rechter Umtriebe ungeeignet. Es »vermag weder die demokratische Repräsentativität der Richterbestellung noch die Auswahl geeigneter Persönlichkeiten zu sichern, ermöglicht der AfD aber die Instrumentalisierung von Verfassungsrichterwahlen«.

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