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Der Beginn der Delta-Welle
In Deutschland steigen die Coronazahlen wieder deutlich an. Der Grund sind übermäßige Lockerungen und falsche Erwartungen an die Impfkampagne
9,4, 10,0, 10,3, 10,9, 11,4, 12,2, 13,2 - die durchschnittliche Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Neuinfektionen je 100|000 Einwohner ist in der vergangenen Woche spürbar und stetig nach oben gegangen. Gegenüber dem Tiefstand von Anfang Juli bedeutet das schon fast eine Verdreifachung. »Man sieht, dass die Pandemie nicht vorbei ist«, warnt der Frankfurter Virologe Martin Sürmer. Er sage nicht zum ersten Mal, dass die »Delta-Virusvariante Nachlässigkeiten noch schneller ausnutzt, um sich zu verbreiten«.
Die Grundlage des Anstiegs sehen Experten in der Übernahme des Infektionsgeschehens durch die indisch-britische Mutante B.1.617.2, die noch etwas infektiöser ist als vorher dominierende Varianten. Doch auch diese muss erst mal ins Land kommen, bevor sie sich groß verbreiten kann. Dabei dürfte das stark gelockerte Reisegeschehen ein zentraler Punkt sein. So stehen in Hamburg Rückkehrer für etwa ein Drittel der neuen Fälle. In den Urlaubsgebieten in Südeuropa waren die Infektionszahlen mit der Delta-Variante bereits rasant gestiegen. Vermutlich mit Blick auf die Wahl weigerte sich die Bundesregierung, vor der Feriensaison eine transparente, aber strikte Quarantäne-Regelung für alle Rückkehrer aus solchen Gebieten zu treffen. Stattdessen setzte man auf ein kompliziertes Stufensystem mit unterschiedlichsten, meist laxen Regelungen für einzelne noch so kleine Regionen. Den Überblick hat hier kaum jemand. Mangels verbindlicher Quarantäne und PCR-Tests tragen auch geimpfte und genesene Urlauber zu einem unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen in Deutschland bei. Ein weiteres Problem ist, dass die zahlreichen Lockerungen zu einem falschen Bewusstsein geführt haben, dass die Pandemie vorbei ist. Dies verleitet insbesondere Geimpfte zu besonders leichtsinnigem Verhalten.
Für den Hallenser Epidemiologen Alexander Kekulé ist das Reisegeschehen zum »Brandbeschleuniger« geworden, was absehbar und vermeidbar gewesen sei. Die Niederlande und Großbritannien hätten gezeigt, was passiert, wenn bei nicht allzu hoher Impfquote zu stark gelockert wird. »Wir berauben uns der Option, die Sache vorsichtig anzugehen. Wenn die Fallzahlen explodieren, diese dann wieder einzufangen, das geht nur mit Schulschließungen und Lockdown«, kritisiert Kekulé. »Ich bin genervt davon, dass ständig die Schulen zugemacht werden und die Kinder quasi die Zeche zahlen.«
Es gibt aber auch eine andere Seite der Infektionslage: Die Fallzahlen in Deutschland steigen von einem sehr niedrigen Niveau aus. Das ist weniger das Ergebnis der Impfkampagne, sondern hat mehr damit zu tun, dass die Lockdown- und Hygienemaßnahmen zuguterletzt doch den gewünschten Erfolg zeitigten. Auch der Sommer und die Tatsache, dass sich die Leute mehr im Freien treffen statt in beengten und ungelüfteten Innenräumen, wirken dämpfend. Extrem hohe Zahlen wie in der dritten Welle sind also erst mal nicht zu erwarten.
Positiv ist auch der Blick in die Krankenhäuser. Die Belegung der Intensivstationen, aber auch die Sterbefälle steigen bisher nicht, wobei man berücksichtigen muss, dass dies erst mit Verzögerung von ein bis zwei Wochen spürbar werden kann. Aber auch in Großbritannien, das schon länger mit einer gewaltigen Delta-Welle zu kämpfen hat, geht man bisher davon aus, dass sich Inzidenz und Hospitalisierung voneinander entkoppelt haben. Dies, da sind sich die Experten einig, wäre der eigentliche Erfolg der Impfkampagne. Da die Risikogruppen weitgehend geschützt sind, trifft es jetzt mehr Personen mit geringem Risiko für einen schweren Verlauf. Das Robert-Koch-Institut teilte am Freitag für Deutschland mit, dass der Inzidenzanstieg derzeit vor allem bei den 15- bis 34-Jährigen zu beobachten sei.
Der Blick nach Großbritannien zeigt aber noch etwas: Laut aktuellen Zahlen der dortigen Gesundheitsdebatten finden sich bei der Delta-Variante häufiger als zuvor auch doppelt Geimpfte. Diese zunehmenden Impfdurchbrüche zeigen, dass die Wirkung der bisherigen Vakzine anders ist als eigentlich gehofft: »Was der Impfstoff vor allem macht, ist der Schutz vor einem schweren Verlauf«, erläutert der Bonner Virologe Hendrik Streeck. Es gehe also um Eigenschutz und nicht um Fremdschutz.
Epidemiologisch betrachtet heißt dieser Befund, dass man nicht auf eine Herdenimmunität setzen kann - also die These, dass sich das Virus quasi totläuft, wenn es eine bestimmte Quote Geimpfter oder Genesener gibt. Ohnehin sind die dafür nötigen Impfquoten gar nicht erreichbar. Damit erübrigt sich aber das Hauptargument der Befürworter schneller Impfungen von Kindern, die da lautet: Indem man die Kleinsten immunisiert, sollen andere, gefährdete Gruppen geschützt werden. Die Ständige Impfkommission wird deshalb trotz Drucks aus der Politik nichts an ihrer Empfehlung ändern, bei Jüngeren nur die mit Vorerkrankungen zu impfen, da der Nutzen das Impfrisiko bei ihnen kaum übersteigt. Das dürfte sich erst ändern, wenn in einigen Monaten traditionelle Tot- und Proteinimpfstoffe zugelassen werden. Das heißt in der Folge, dass in Schulen auch nach den Ferien an den erprobten Maßnahmen festgehalten werden muss. Von Normalität werden sie weit entfernt sein.
Letztlich hat die Politik dies mit zu verantworten, denn sie nimmt in Kauf, dass die Infektionszahlen wieder steigen. »Wir haben zu viel zusätzlich gemacht zu den vernünftigen Lockerungen: Hier die Maske weglassen, dort auf Tests verzichten. Wir haben die Homeoffice-Pflicht wieder reduziert«, sagt Virologe Stürmer. »Da kommen viele Faktoren zusammen, die Übertragungen fördern können.«
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