- Berlin
- Jiddisches Straßenschild
Erinnerungskultur von unten
Ein Straßenschild soll an die jüdische Vergangenheit des Scheunenviertels erinnern
גרענאדיערשטראסע - Grenadierstraße. So hieß die Almstadtstraße, als man hier noch koschere Lebensmittel kaufen konnte und in den Hinterhöfen hebräisches Gemurmel aus den Bethäusern drang. Sebestyén Fiumei wollte mit einem jiddischen Straßenschild auf den ehemaligen Namen aufmerksam machen. Doch nach wenigen Wochen wurde es vom Bezirksamt entfernt. Ein Gespräch über die Grenzen der deutschen Erinnerungskultur.
Herr Fiumei, 2019 haben Sie bereits im vierten Arrondissement von Paris ein jiddisches Straßenschild angebracht, das den Originalen zum Verwechseln ähnlich sieht. Wie lange hat es gedauert, bis die Pariser Behörden darauf aufmerksam wurden?
Das Schild in Paris steht immer noch. Vielleicht liegt es an den französischen Beamten, die langsamer arbeiten als die deutsche Bürokratie. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass dieses Viertel bis heute sehr jüdisch geprägt ist und das Schild einfach verstanden wird. Der Bezirksbürgermeister hat sogar ein Foto davon auf seinem Instagram-Kanal gepostet.
Das ist in Berlin ganz anders. In der ehemaligen Grenadierstraße sieht man heute weder jüdisches Leben noch eine Erinnerung daran: Alles, was einem bei einem Spaziergang über die einstige Hauptader des ostjüdischen Viertels auffällt, sind ein paar vereinzelte Stolpersteine.
Das hat mich auch erstaunt. Berlin ist ja eigentlich voll mit Erinnerungskultur. Aber dort steht nicht einmal eine Tafel, die den historischen Kontext der Straße erklärt. Stolpersteine gibt es übrigens so wenige, weil die meisten Juden schon vor der Shoah weggezogen sind. Das Scheunenviertel war für sie sowieso eine Zwischenstation: Sie waren nach den Pogromen um 1880 aus dem Russischen Reich geflüchtet und wollten nach Großbritannien oder Amerika, zumal sie auch in Berlin nicht sicher waren.
Schon 1923 gab es hier das erste Pogrom, bei dem Nachbarn aus den angrenzenden Vierteln durch die Grenadierstraße zogen und jüdische Geschäfte demolierten, Juden überfielen und beraubten. Die Polizei ließ sie gewähren.
Ja, die Ecke war nicht gerade beliebt bei den Berlinern. Im Gegensatz zum reichen Charlottenburg, wo die assimilierten Juden lebten, kamen hier verarmte Ostjuden auf engstem Raum zusammen, Flüchtlinge, die von kleinen legalen und illegalen Geschäften lebten, religiös waren und Jiddisch sprachen. Die Polizei veranstaltete hier immer wieder Razzien, bei antisemitischen Angriffen sah sie weg.
Das klingt alles ein bisschen nach der heutigen Sonnenallee.
Genau, es war, wie man heute sagen würde, ein Problemviertel. Aber auch mit der Sonnenallee assoziieren die Menschen, die dort leben, ja nicht nur Schlechtes. Sie ist auch ihre Heimat, an die positive Erinnerungen geknüpft sind. Das wollte ich mit meinem Straßenschild auch zeigen. Grenadierstraße – dieses Wort ließ vor 100 Jahren viele Ostjuden an den Ort denken, wo sie gerne einkauften oder wo die Tante lebte.
Ihr Straßenschild in jiddischer Sprache erinnert – im Gegensatz zu vielen Denkmälern in Berlin – nicht an die Vernichtung jüdischen Lebens, sondern an dessen aktives Bestehen. Noch mehr: Es spricht nicht aus einer deutschen Perspektive, sondern verwendet die Sprache derer, derer es gedenkt.
In Deutschland funktioniert Erinnerungskultur eigentlich immer von oben herab: Irgendein Ministerium oder ein Amt entscheidet, wo und wie erinnert werden soll. Dann wird etwas aufgestellt, fast immer mit Holocaust-Bezug, häufig angefertigt von einem Künstler aus Israel, und die Deutschen können gucken kommen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute aus eigener Motivation erinnern. Ich habe gehört, dass die Nachbarn in einem Hinterhof der Almstadtstraße ein kleines Mahnmal aufgestellt haben – so etwas ist doch cool. Erinnerungskultur von unten. Das ist übrigens unter anderem ein Grund, warum ich mein Straßenschild einfach ohne Genehmigung installiert habe. Im Übrigen könnte das jeder machen, es spielt keine Rolle, dass ich selbst jüdisch bin.
Wenn die Erinnerungskultur hier so durchstrukturiert ist, warum gibt es dann eigentlich keine offiziellen Denkmäler im Berliner Scheunenviertel? In Charlottenburg hängen an vielen Gebäuden Tafeln, die an ehemalige jüdische Bewohner erinnern.
Vielleicht weil in der Grenadierstraße Menschen lebten, die nicht in das Bild der assimilierten deutschen Juden passen, an die man sich heute so gerne erinnert. Eben keine reichen Ärzte oder Kulturschaffenden, sondern arme Ausländer.
Nach dem Interview mit »nd« hat das Bezirksamt Mitte einen Sachgebietsleiter beauftragt, die Wiederinstallation des Straßenschildes auf offiziellem Wege einzuleiten.
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