Der Pop hat die besseren Lieder!

Wir haben ihn geliebt - trotz seiner Verirrungen und wider alle Vorurteile - und lieben ihn immer noch. Ein Manifest über den Paradiesvogel der Musikfamilie

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Stimmung ist mies im Königreich des Pop. Und das nicht nur, weil dessen selbsternannter Monarch, Michael Jackson, sich nach dem Ableben als Gewaltherrscher entpuppt hat. Auch die vermeintlichen Nachfolger wirken seltsam untot. Umso wichtiger ist, sich vor Augen zu halten, wofür Pop steht. Zehn Thesen, warum wir ihn brauchen:

1. Pop ist kompromisslos

»Du, also, ich find dich, äh, eigentlich ganz nett, irgendwie.« Solche lauwarmen Verbalduschen wird man im Pop genauso wenig erleben wie weitschweifige Beschreibungen morscher Beziehungskisten.

Stattdessen werden die Hörer einem Stahlbad ultrahocherhitzter Gefühle ausgesetzt. Und zwar ohne Glücksgarantie. Lieber grandios scheitern (inklusive emotionalem Feuerwerk) als am Leben vorbeileben.

Der passende Song: »I Can't Get Enough of You Baby«, The Colourfield

2. Pop ist wahrhaftig

Es tut mir leid, doch es geht nicht anders. Der Gassenhauer der Kalendersprüche und Aphorismensammlungen muss mal wieder ran - dein Auftritt, Oscar: »Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach Äußerlichkeiten. Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.«

Mr. Wilde hat recht. Und jeder Popsong liefert die Bestätigung. Da wird nicht lang um den heißen Brei herumgeredet. Keine Zeit für psychologische Tiefenbohrungen. In drei Minuten muss das Thema durch sein. Also raus mit der Sprache: Verliebt - ja oder nein? Einsam - ja oder nein? Eifersüchtig - ja oder nein? Glücklich - ja oder nein?

Der passende Song: »Wake Me Up Before You Go-Go« , Wham!

3. Pop baut auf

Wir wären alle gerne mutiger, selbstbewusster, größer. Nicht so gefangen im Alltag mit all seinen Zwängen. Dann brauchen wir jemanden, der uns einen Anstoß gibt oder auch mal kräftig in den Hintern tappt. Genau dafür hat man Freunde - reale, mit denen man bei Kaffee oder Bier zusammensitzt, und virtuelle, die über Lautsprecher oder Kopfhörer mit einem kommunizieren.

Der passende Song: »Break Out«, Swing Out Sister

4. Pop feiert das Leben

Das darf man wörtlich verstehen. Weil Popmusik oft auch Partymusik ist. Sie tritt jedem Stil offen entgegen, lässt sich rückhaltlos auf jede musikalische Begegnung ein.

Im Verbund mit Rhythm & Blues bringt sie Disco und House hervor, dem New Wave treibt sie die schlechte Laune aus (bestes Beispiel: Human League), dem Folk drückt sie ein Glas Sekt in die Hand und den Rock macht sie locker.

Der passende Song: »Happy«, Pharrell Williams

5. Pop hilft bei Liebeskummer

Pop zelebriert das große Gefühl. Was aber, wenn dieses Gefühl keine Erwiderung findet? Wenn sich das Objekt der Begierde verweigert?

Dann schlägt die Stunde der Jammerlappen und Heulsusen. Der eigene Schmerz wird zum Fall fürs Guinness-Buch, denn nirgends wird exzessiver gelitten als im Pop. Und zwar in allen Varianten:

1.) Man selbst hat Mist gebaut: »Ich werde nie wieder tanzen; schuldige Füße haben keinen Rhythmus.« (»I'm never gonna dance again, guilty feet have got no rhythm«, George Michael in: »Careless whisper«).

2.) Man wurde schnöde verlassen: »Eines Tages wird es dir leidtun. Eines Tages, wenn du frei bist, kommen die Erinnerungen hoch, dass unsere Liebe vorbestimmt war. Doch wenn du mitten in der Nacht meinen Namen rufst, wird das Einzige, was du hörst, das Echo deiner Stimme sein, die nach mir ruft.« (»Some day you'll be sorry. Someday when you're free, memories will remind you that our love was meant to be. Late at night when you call my name, the only sound you'll hear is the sound of your voice calling, calling after me«, Genesis in: »Throwing it all away«).

3.) Beide haben es verbockt: »All die Träume, die sich in Luft aufgelöst haben. All die Worte, die wir nicht sagten. Zwei Menschen, verloren im Sturm. Wo sind wir bloß gelandet? Wir verloren, was wir gemeinsam gefunden hatten. Tja, wir haben uns wohl gegenseitig enttäuscht.« (»So many dreams that flew away. So many words we didn’t say. Two people lost in a storm. Where did we go? We lost what we both had found. You know we let each other down«, The Commodores in: »Still«).

Für jede der Varianten gibt es ein Großlager an Songs, die Trost spenden, indem sie signalisieren: »Du bist nicht allein; das haben wir ebenfalls alles mal durchgemacht.«

Auch später, wenn das Gröbste überstanden ist und die eigentliche Trauerarbeit beginnt, hält Pop die passenden Lieder bereit. Melancholische Balladen, die das Selbstmitleid versüßen.

Der passende Song: »So Like Candy«, Elvis Costello

6. Pop kann auch Deutsch

Nein, Lässigkeit gehört nicht zu den Exportschlagern dieses Landes. Da können wir noch so viele Salsakurse und Karibikreisen buchen - südländische Lebensfreude verträgt sich nur schwer mit dem teutonischen Hang zu Kampf und Krampf. In einem Land, in dem selbst Rock wie beschleunigte Marschmusik klingt, haben es beschwingtere Klänge schwer.

Doch manchmal - viel zu selten - geschieht ein Wunder. Dann vergessen die Nachfahren Richard Wagners drei Minuten lang ihre Herkunft und lösen die inneren Fesseln und Bremsen. Mit einem Mal passt alles. Die Melodien beginnen zu hüpfen. Und wo vorher noch bleierne Schwermut herrschte, macht sich Leichtigkeit breit. Bis der Moderator einen Song von Unheilig ankündigt.

Der passende Song: »Nimm mich mit«, 2raumwohnung

7. Pop ist erwachsen

Das Deprimierende am typischen Rockstar ist, dass er sich nicht weiterentwickelt. Bis zur Leberzirrhose verharrt er auf der Bewusstseinsstufe eines Pubertierenden, der gerade Party und Protest für sich entdeckt. Und dabei immer debiler wird - Ozzy Osbourne lässt grüßen.

Anders der Popstar, der gegen die Melancholie - das Bewusstsein um die eigene Vergänglichkeit - nicht ansäuft, sondern sich ihr stellt. Als Chronist der Veränderungen (die nicht selten mit Verlusten einhergehen) hat er eine Antenne für die Welt, die ihn umgibt. Er beschreibt, was passiert, wenn man sich vom Lebensmotto »Forever young« verabschiedet.

Das sind nicht immer angenehme Erkenntnisse. Aber Erwachsenwerden heißt eben auch, ein paar Grundwahrheiten des Lebens zu respektieren. Ozzy kann alldieweil weitersaufen.

Der passende Song: »Geboren«, Die Fantastischen Vier

8. Pop enthemmt

Natürlich gab es schon immer Pornografie. Ob steinzeitliche Höhlenkritzelei, wilhelminische Nacktpostkarte, Schwedenheftchen oder YouPorn - zu allen Zeiten wurden reichlich Vorlagen produziert.

Doch hatte Pornografie meist die Aura des Heimlichen, Verklemmten, Verdrucksten. Der Biedermann ließ, wenn keiner hinschaute, die Sau raus, und gab sich ansonsten zugeknöpft, prüde, lustfeindlich.

Pop attackiert diese Doppelmoral. Er propagiert die Enthemmung, fordert das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein. Vor allem aber streicht er das Wort »verboten« aus dem Vokabular. Alles ist erlaubt, solange es niemandem schadet. In diesem Sinne: Viel Spaß!

Der passende Song: »Justify My Love«, Madonna

9. Pop berauscht

Diesen Text müssten eigentlich ein Physiologe und ein Biochemiker verfassen. Sie könnten im Detail erklären, was die Schallwellen bestimmter Tonfolgen im menschlichen Körper auslösen. Wie bestimmte Lieder dazu führen, dass der Puls Fahrt aufnimmt und das Gehirn mit der Produktion von Glückshormonen nicht mehr nachkommt.

Auch ein Drogenforscher könnte zu diesem Thema einiges beitragen. Denn die popinduzierten Rauschzustände sind jenen, die von psychoaktiven (also bewusstseinsverändernden) Substanzen ausgelöst werden, nicht unähnlich. Nur dass es beim Pop schneller geht. Manchmal reichen schon ein paar Takte als Stimmungsaufheller und Euphorieauslöser.

Der passende Song: »Be My Baby«, Vanessa Paradis

10. Pop ist spirituell

Kein Mensch braucht Popintellektuelle. Jene Neunmalklugen aus dem Oberseminar, die in ein paar simple Liedchen alles Mögliche hineininterpretieren. Denn Pop wird nicht dafür gemacht, dass sich Feuilletonisten den Kopf darüber zerbrechen.

Der Zweck von Pop besteht darin, dass möglichst viele Menschen so sehr Gefallen daran finden, dass sie die Songs und Alben käuflich erwerben. Darum geht es nämlich: ums Geldverdienen.

Um in dieser Industrie Erfolg zu haben, bedarf es keiner literarischen Texte und keiner hochkomplexen musikalischen Arrangements. Eine eingängige Melodie, ein griffiger Mitsing-Refrain und ein Gespür dafür, was gerade den Nerv der Zeit trifft - mehr braucht es nicht.

Alles Weitere liegt im Ermessen der Zuhörer. Diese können einen Song wie »The look of love« von ABC als aufmunterndes Liebeslied deuten oder als sarkastische Abrechnung mit der Ex (wie es eigentlich gemeint war). Entscheidend ist, dass die Zuhörer berührt werden. Dass sie eine Verbindung zwischen dem Lied und ihrem eigenen Leben herstellen.

Und damit ist das Geheimnis von Pop gelüftet: Pop ist ein riesiges Konstrukt aus Gedanken und Gefühlen, auf das man alles projizieren und in das man alles hineininterpretieren darf. Wie bei einer Religion. Mit dem Unterschied: Der Pop hat die besseren Lieder!

Der passende Song: »(Keep Feeling) Fascination«, Human League

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