Authentische Kunst oder künstliche Authentizität?

Über einen zentralen Begriff der zeitgenössischen Ästhetik

  • Alexander Estis
  • Lesedauer: 3 Min.

Als dränge von fernher ein urtümlicher Laut aus dem Urwald des Gefühls an sein von zivilisatorischer Watte verdumpftes Ohr, erwacht im Menschen angesichts jeder denkbaren Erfahrung die Gier nach dem Authentischen. So sehr hat offenbar das Unechte, das Ersatzhafte, das Verfremdete überall seinen Raum erobert, dass kaum etwas schwerer wiegt als die Sehnsucht nach der Authentizität: Von den ersten bis zu den letzten Dingen. Vom gewächshaustropisch eukalyptisierten Hauch der ersterotischen Interessensbekundung und erwiesenermaßen gefühlsechtem Liebemachen nach Feng-Shui-Ratgeber bis zur naturholzäquivalenten Beschichtung einer Spanplatte für die umweltbewusste Sargherstellung und zur kunsttherapeutisch angeleiteten Trauerarbeit - nichts, was sich der angestrengten Bemühung um Natürlichkeit entziehen dürfte.

Eine folgerichtige quasireligiöse Verabsolutierung des älteren Spontaneitätskultes, schlägt Authentizität als ästhetisches Kriterium Tiefe der Einsicht, schlägt Weite des Horizonts, schlägt erst recht Meisterschaft der Ausführung und Vollendung der Form. Was authentisch ist, das ist, wie es ist, eine vermeintlich unmittelbare Manifestation des Individuums oder des Kollektivs im inartifiziellen Artefakt, wie sie eine absolute Existenz- und Akzeptanzberechtigung erheischt - sie darf nicht hinterfragt, nicht kritisiert werden, erfordert keinen ideellen Gehalt und verwirft zugleich definitionsgemäß das Erfordernis jedes Gestaltungswillens. Aber seit wann wäre Authentizität überhaupt ein Kriterium des kulturellen Arbitriums? - Ein Furz ist in höchstem Maße authentisch, aber die Mehrzahl der Fürze ist kulturell von geringem Wert.

Man fühlt sich veranlasst, gegen den Authentizitätswahn ebenso alte wie gute Sätze ins Feld zu führen: Kunst ist stets Überformung; es gilt in ihr nicht das tatsächlich Wahre, sondern das, was als wahr erscheint; das unmittelbar Echte wiederum ist in der Kunst fast immer unglaubwürdig und fad. (Freilich »verbirgt die Kunst alles Künstliche«, wie Ovid sagt; aber eine solche Sprezzatura, auch noch das Schwere leicht erscheinen zu lassen, lässt alle Technik hinter sich - nicht außen vor.)

Damit erledigt sich die Angelegenheit jedoch mitnichten. Denn der Mensch sucht heute in seiner Erfahrung bezeichnenderweise nicht das Echte, sondern eben das Authentische: Wenn Rentnerin Elfriede ihre Leiden an der Arthritis und am deutschen Gesundheitswesen auf einer Bühne beschriebe, wäre das mindestens so echt, wie wenn eine aufgesetzt jugendhafte Slam-Poetin in zugleich präadoleszenter und schulmeisterlicher Diktion Weltklugheiten von der geistigen Potenz eines erstmals auftauchenden Blindmolchs verkündet. Aber Rentnerin Elfriede will niemand zuhören, denn sie ist alt und langweilig. Die Slam-Poetin ist auch langweilig, aber jung - und sie sagt mit ihren Worten, zeigt mit ihrem Auftreten, wie echt sie ist. Und die von ihr engagierte (oder sie engagierende?) Öffentlichkeitsmaschinerie affichiert diese Wahrhaftigkeitsaffirmation auf jeder verfügbaren realen und virtuellen Fläche.

Authentizität in der Kunst ist in der Regel medial inszeniert, von Hypes gepusht und insoweit schon ihrem Wesen nach unecht. Sie zeichnet sich geradezu aus durch diesen Gestus, mit dem sie sich als echt - oder sogar in unmöglichem Superlativ: ganz besonders echt - lizenziert.

Doch welche Natürlichkeit stellt sich selbst aus? In diesem Augenblick des Exponierens ist jede tatsächliche Echtheit gerade verspielt, ist die Echtheit zur Authentizität geworden, einem veritablen Echtheitsersatz - wie ja schon der Begriff der Authentizität nur ein hässliches Substitut für das echte »echt« ist.

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