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Die Hochrisikogruppen sind noch nicht geschützt
Experten warnen die Politik davor, den Corona-Inzidenzmaßstab angesichts der Impffortschritte ganz aufzuweichen
Die Modellierer in Deutschland lassen wieder ihre Computerprogramme durchlaufen. Diese errechnen, was passieren würde, wenn eine Corona-Welle unkontrolliert durchläuft. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfektionen hatte vergangene Woche wieder exponentielle Wachstumsraten. Trotz des noch niedrigen Niveaus warnten Modellierer vom Robert Koch-Institut (RKI) davor, dass die Inzidenz im September bundesweit bei 700 liegen könnte - das wäre ein neuer deutscher Rekordwert in der Corona-Pandemie.
Zuletzt hat sich das Wachstum etwas verlangsamt - ohne dass zuvor zusätzliche Maßnahmen ergriffen worden wären. Christian Althaus, Epidemiologe am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, führt dies darauf zurück, dass einerseits die Fußballeuropameisterschaft mit ihrem verbreiteten Public Viewing und andererseits der Ferienbeginn mit den stark gestiegenen PCR-Testraten zu dem anfangs steilen Anstieg geführt hätten. Beide Effekte seien jetzt nicht mehr zu spüren.
Nichtsdestotrotz steigen die Inzidenzen weiter. Doch die Zahlen sind nicht vergleichbar mit denen aus der Frühphase der Covidkrise, als kaum getestet wurde. Außerdem infizieren sich prozentual deutlich mehr jüngere Leute - aktuell vor allem Personen im Alter von 15 bis 29 Jahren. Und diese haben ein deutlich geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Auch die gestiegene Impfquote hat einen solchen Effekt. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat deshalb vor einigen Tagen über den Daumen gepeilt: »200 ist das neue 50.« Letzteres war bekanntlich die Marke, ab der in Deutschland schärfere Maßnahmen ergriffen wurden. Spahns sportliche Vorgabe hängt damit zusammen, dass die Bundesbehörde RKI die - derzeit niedrige - Zahl der Krankenhausbelegungen stärker gewichten will als die Inzidenz.
Von Spahns Zahlenspielen halten Experten wenig. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin, weist darauf hin, dass die 50 die Grenze war, bis zu der die Gesundheitsämter die neuen Infektionen noch nachverfolgen konnten. Er habe nichts davon gehört, dass sich dies geändert habe. Bei höheren Inzidenzen wäre also die Kontaktnachverfolgung nicht mehr möglich.
Ist es also eine gute Idee, deutlich höhere Inzidenzen hinzunehmen, bevor Maßnahmen ergriffen werden? Die Fachwelt schaut gespannt nach Großbritannien, wo Inzidenzen wie auf dem Höhepunkt der dritten Welle, eine gute Impfquote und die Aufhebung fast aller Maßnahmen zusammenkommen. Nach Angaben von Busse liegen derzeit dreieinhalbmal weniger Menschen mit Covid-19 in den britischen Kliniken als bei vergleichbaren Inzidenzen in der dritten Welle; ähnlich sei das Verhältnis bei der intensivmedizinischen Behandlung. In den Niederlanden, die wegen der Delta-Variante ebenfalls hohe Inzidenzen aufweisen, liege das Verhältnis bei eins zu drei. Nicht wenige Fachleute leiten daraus ab, dass in Deutschland im Herbst nicht wieder eine Überlastung der Krankenhäuser droht. Selbst der Verband der Intensivmediziner, der früher zu den stärksten Warnern gehörte, äußert sich ähnlich.
Vor zu viel Optimismus warnt Andreas Schuppert. Der Medizininformatiker von der Technischen Hochschule Aachen weist auf den geringeren Schutz der Hochrisikogruppen hin. Bei den über 80-Jährigen seien in Großbritannien 99 Prozent komplett geimpft, hierzulande nur 86 Prozent. 182 000 Menschen seien noch ohne Schutz. Am meisten Sorge bereiten ihm die über 60-Jährigen mit noch geringeren Impfquoten, die zu Hause leben und breite Kontakte haben. Die Impffortschritte in diesen Altersgruppen dürften mit darüber entscheiden, wie sich die Lage in den Krankenhäusern im Herbst und Winter entwickelt. Busse ergänzt, dass eine Überlastung von Kliniken nicht anstehe und es endlich mehr um Long-Covid gehen solle, denn: »Jede vermeidbare Infektion ist wichtig.«
Zur Frage, welche Inzidenzen wir uns mit Blick auf die Krankenhäuser künftig leisten können, verweist Schuppert auf viele Unwägbarkeiten. Wie entwickelt sich die Impfquote und wie die Genesenenquote? Werden künftig noch infektiösere Varianten die Delta-Mutante ablösen? Der Schweizer Epidemiologe Althaus hat einen Rat für die Deutschen im Gepäck: Wichtiger als die Frage nach der richtigen Grenzmarke sei es, jetzt die Debatte darüber zu führen, was man zu welchem Zeitpunkt machen wolle. Dann sei er zuversichtlich, besser durch den Herbst und Winter zu kommen als vor einem Jahr.
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