Vom Vorbild zum Hotspot und zurück

Indiens Corona-Lage hat sich seit den katastrophalen Rekordzahlen spürbar entspannt, variiert allerdings in den einzelnen Teilregionen enorm

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist drei Monate her, seit die Zahlen und Bilder aus Indien die Welt in Atem hielten: Zwischen Ende April und Mitte Mai katapultierte sich das Land mit einer explodierenden dritten Welle an die Spitze der globalen Corona-Statistiken. Noch gut sind auch hierzulande die Szenen vom Subkontinent in Erinnerung, die sich beinahe allabendlich in den Fernsehnachrichten fanden und via sogenannte soziale Netzwerke geteilt wurden: völlig verzweifelte Menschen, deren schwer erkrankte Angehörige von den überfüllten Krankenhäusern abgewiesen wurden. Zusätzlich eingerichtete Verbrennungsplätze, auf denen es gar nicht schnell genug gehen konnte, nach hinduistischem Ritus immer mehr Scheiterhaufen für die Einäscherung der Verstorbenen zu entzünden. Und die Jagd nach dem knappen Gut Sauerstoff zur Beatmung, mit Sonderzügen an die Hotspots im Lande verteilt und als Hilfslieferung aus dem Ausland eingeflogen.

Über 400 000 Neuansteckungen pro Tag gab es Anfang Mai in einer Woche, knapp das Vierfache vorheriger Höchstwerte vom September 2020. Dass es den Juli über im Schnitt nur noch 40 000 Fälle pro Tag waren, also ein Zehntel der traurigen Rekorde, darf als Erfolg gewertet werden. Der durchaus imposante Rückgang ist jedoch nur ein Puzzleteil in einem komplexen Bild mit vielen Aspekten und großen regionalen Unterschieden. So ist nach wie vor unklar, welche Dunkelziffer hinter den gesunkenen Zahlen steht - die Schätzungen schwanken zwischen dem Drei- und Zehnfachen. Dass die amtliche Corona-Statistik nur einen kleinen Ausschnitt des Infektionsgeschehens darstellt, dafür gibt es nun belastbare Anhaltspunkte.

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Ein Team des Indian Council of Medical Research (ICMR) hat zwischen 14. Juni und 6. Juli Untersuchungen in elf der 27 Unionsstaaten durchgeführt. Das Mitte der Woche vom Gesundheitsministerium publizierte Ergebnis der Studie überrascht: Im Schnitt fanden sich bei zwei Drittel der lokalen Bevölkerung Coronavirus-Antikörper, was abseits amtlich dokumentierter Fälle auf eine »stille« Infektion und Genesung im großen Stil hinweist. Den Spitzenwert hat mit 79 Prozent der zentralindische Flächenstaat Madhya Pradesh. Auch Gujarat, Bihar und Rajasthan liegen mit 75 bis 76 Prozent auf ähnlichem Level - über 70 Prozent weisen zudem das bevölkerungsreichste Uttar Pradesh, Uttarakhand gleich nebenan, das sehr ländliche Chhattisgarh im Zentrum und Andhra Pradesh an der Ostküste aus. Nur 50,3 Prozent sind es in Assam. Und Schlusslicht ist Kerala mit 44 Prozent.

Dafür ist der schmale Küstenstreifen ganz im Südwesten, der als einziger Teilstaat von der kommunistisch geführten Linksfront regiert wird und über ein vorbildliches Gesundheitssystem verfügt, aktuell zum absoluten Corona-Hotspot geworden: 50 Prozent aller indischen Neuinfektionen entfallen inzwischen auf das eher überschaubare Kerala, was vor Ort ebenso wie weit entfernt in Delhi bei der Zentralregierung die Alarmglocken schrillen lässt. Das nationale Gesundheitsministerium warnte in einem Brief, sich vor allem strikt an das Verbot von Großveranstaltungen zu halten. Immerhin: Trotz aller jüngsten Alarmsignale funktionieren Kontaktnachverfolgung und häusliche Quarantäne der zahlreichen neuen Fälle in Kerala immer noch recht gut.

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Wie unterschiedlich in den Weiten des Landes die Situation vor Ort ist, zeigt auch der Blick auf die Impfkampagne, die seit dem Start am 16. Januar sehr unterschiedliche Fortschritte macht. Nicht nur zwischen den einzelnen Unionsstaaten klaffen die Werte weit auseinander, selbst zwischen benachbarten Distrikten liegen teils Welten. Eine Erklärung dafür ist effektive oder teils chaotische Planung. Aber auch Bevölkerungsdichte, Stand der Infrastruktur und geografische Gegebenheiten spielen eine Rolle. Zu den Schlusslichtern zählt das südindische Tamil Nadu, wo in den meisten Distrikten nicht einmal fünf Prozent schon zweimal geimpft sind. Als positive Gegenbeispiele haben in ganz Sikkim, einen kleinen Teilstaat zwischen Nepal, Tibet und Bhutan, knapp 20 Prozent der Bevölkerung beide Impfdosen erhalten. Einzelne Distrikte in Odisha, Tripura und ein Stadtbezirk Delhis weisen sogar schon knapp ein Drittel doppelt Geimpfte auf. Landesweit wurden inzwischen 450 Millionen Dosen verabreicht, knapp 97 Millionen der fast 1,4 Milliarden Einwohner sind voll geimpft - noch immer zu wenig. Auch die oftmals kompletten Einkommensverluste treffen die Ärmsten der Armen hart. Armut und Hunger haben sich vielerorts verschärft.

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