Immer tiefer in die Geschichte hinein

Die Hamburger Kunsthalle macht sämtliche Gemälde von Max Beckmann im Internet zugänglich

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Catalogue Raisonné ist die Königsklasse unter den Bildbänden. Meist sind solche künstlerischen Gesamtverzeichnisse schwer wie Pflastersteine, teurer als ein Kurzurlaub und in Bibliotheken nur im Lesesaal benutzbar. Für die lang ersehnte Demokratisierung sorgt, wenn auch zeitverzögert, das Internet. Zu den führenden deutschen Künstlern, deren Schaffen im Web abrufbar ist, zählt seit Neuestem auch Max Beckmann. Nach fünfjähriger Vorbereitungszeit hat die Hamburger Kunsthalle eine Datenbank online gestellt, die sämtliche bekannten Gemälde des berühmten Leipzigers (1884–1950) aufführt und wissenschaftlich erschließt. Ohne Anmeldung, Bezahlschranke oder anderen digitalen Stacheldraht.

Neben Infos zu den jeweiligen Werken prunkt der barrierefreie Internet-Beckmann auch mit einem Index, der Fachliteratur und verfügbare Archivmaterialien wie Briefe oder Tagebücher auflistet. Insgesamt sind über 800 Gemälde und 10 000 weitere Datensätze abrufbar. Dank der ausführlichen biografischen Zeitleiste zum Künstler finden auch Einsteiger rasche Orientierung. Hat man ein Gemälde in Einzeldarstellung auf dem Bildschirm, verwandelt sich der darüber fahrende Mauszeiger in eine Lupe, was einen Detailblick erlaubt, wie man ihn sich im Museum nicht erlauben dürfte, ohne dass gleich die Alarmanlage losheulte.

Auf den ersten Blick sind die Angaben zu Preis und Versicherungswert, Standort und Ausstellungsgeschichte nur trockener Datenstaub, doch daraus erheben sich Geschichten. Sie erzählen, wie Bilder durch die Institutionen wandern und zur kapitalistischen Ware werden. Zum Beispiel das »Selbstbildnis mit Smoking«, das 1927 in Frankfurt am Main entstand. Von dort gelangte das Dreiviertelporträt über den Avantgardegaleristen Julius Meier-Graefe an die Staatlichen Museen zu Berlin, wo es 1937 von den Nazis als »entartet« beschlagnahmt und im Depot »international verwertbarer« Kunstobjekte in Schloss Schönhausen eingelagert wurde. Zur Devisenbeschaffung gaben die braunen Kunstbeamten das offiziell verfemte Werk zurück in den Kunsthandel. Nach einer letzten Zwischenstation in einer New Yorker Galerie fand die Odyssee von Beckmanns Bild schließlich in den Harvard Art Museums in Cambridge/Massachusetts ihr Ende. Laut Onlinekatalog betrug der ursprüngliche Angebotspreis aus dem Jahr 1928 7000 Reichsmark. 1984 wurde der Versicherungswert auf 800 000 US-Dollar geschätzt und dürfte heute noch wesentlich höher liegen.

Jede Suchfeldeingabe, jeder Mausklick führt tiefer in ein Oeuvre, das wie kein anderes die gesellschaftlichen Spannungen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts verkörpert. Den Menschen in Beckmanns Malerei sind die Räume zu eng geworden: Seine Interieurs sind Klaustrophobien der Unfreiheit mit stürzenden Wänden, in den Stillleben drohen die Blumentöpfe auf der schiefen Ebene des Tisches wegzurutschen. Kubistische Perspektivenbrüche und grobzackige schwarze Konturlinien im Stil der Expressionisten verschmelzen zur existenziellen Bildsprache des gelebten Widerspruchs. Das 1918/19 entstandene Fessel- und Folterszenario der »Nacht« etwa schleudert die unbewältigte Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs als allegorisches Martyrium aus sich heraus.
Ein Gegengewicht gegen die seismischen Erschütterungen der Zeit sah Beckmann in sich selbst. Eine entsprechende Suche im Verzeichnis liefert rund 50 Selbstbildnisse. Auf den meisten davon begegnet der Künstler kantig, arrogant und mit einem sarkastischen Zug um den Mund.

Dabei war die Dickschädel-Pose in Wahrheit eher ein Schutzpanzer, eine symbolische Abhärtung gegen das Chaos um ihn herum. Als »zarten Knaben« und »grundanständig« charakterisierte jedenfalls der Zeitgenosse Carl Einstein den Künstler.
Dass man viele Werke nur in mäßiger Schwarz-Weiß-Abbildung sieht, hat einen Grund: Fast zehn Prozent der Gemälde sind durch Luftangriffe zerstört oder gelten als verschollen. Aber vielleicht bewegt sich in dieser Hinsicht noch etwas. Internationale Datenbanken haben in der Vergangenheit schon manchen kunsthistorischen Verlustfall überraschend aufgeklärt.

Auch das ist also ein Vorteil der elektronischen Registratur, die das 1976 auf Papier erschienene Werkverzeichnis von Barbara und Erhard Göpel als Goldstandard der Beckmann-Forschung ablöst. Dieses stellte gleichwohl die Basis für das Hamburger Projekt dar, weswegen ein Text auf der Homepage noch einmal an die Bedeutung des illustren Paares erinnert. Erhard Göpel war schon während des Zweiten Weltkriegs eng mit Beckmann befreundet. Ausdruck der engen Verbindung ist Beckmanns Porträt des Kunsthistorikers, welches seit 2018 den Staatlichen Museen zu Berlin gehört. Als Aufkäufer für das so genannte »Führermuseum« besaß Erhard Göpel eine herausragende Position im Hitlerstaat. Die nutzte er unter anderem, um Beckmann vor der Einberufung zum Wehrdienst zu bewahren. Parallel jedoch war der Bilderbeschaffer tief in den systematischen Kunstraub der Nazis verstrickt.

Dass das Hamburger Bearbeiter*innen-Team um Anja Tiedemann die, vorsichtig formuliert, ambivalente Rolle des Beckmann-Freundes etwas zu wohlwollend darstellt, ist der einzige Schönheitsfehler des kunst- und nutzerfreundlichen Onlinekatalogs.
https://beckmann-gemaelde.org

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