Krieg und Propagandakrieg

Die afghanische Regierung verliert das Land – und oberste deutsche Richter waschen die Bundeswehr rein

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Der eilige Rückzug der alliierten Streitkräfte unter Führung der USA aus Afghanistan hat zumindest eines vermieden: Anders als bei der Flucht der US-Armee 1975 aus dem damaligen Südvietnam gibt es bislang keine Bilder von Menschen, die sich an Militärhubschrauber klammern, um dem zu entfliehen, was unausweichlich kommt. Die siegreichen Vietnamesen nutzen diese dokumentierte Schmach der Vereinigten Staaten noch immer, um daraus propagandistische Vorteile zu ziehen. Dergleichen gelingt den «Propagandakollegen» der am Hindukusch vorrückenden Taliban nicht. Dennoch wird man sich darauf einstellen müssen, dass sie nicht nur die Hoheit über weite Teile des Landes, sondern auch die aus ihm herausdringenden Informationen übernehmen.

Eine vom Sonntag lautete: «Mudschahedin des Islamischen Emirats eroberten nach einer Reihe von Siegen die Provinzhauptstadt der Provinz Kundus, das Gouverneursamt, das Polizeipräsidium, das Gefängnis, den Geheimdienst, die gesamte Stadt und ihre Umgebung.» Auch die 500 000-Einwohner-Hauptstadt der Provinz Sar-e Pul samt allen Regierungseinrichtungen sei eingenommen worden. In beiden Provinzen – Bilder bezeugen das – haben die Mudschahedin den afghanischen Sicherheitskräften, die so mut- wie kraftlos agieren, «Tausende von leichten und schweren Waffen, eine große Anzahl von Militärfahrzeugen, Ausrüstung und Munition abgenommen». Die Rede ist von toten Zivilisten, die im Feuer der Regierungstruppen umgekommen sind. Vieh werde von der Kabuler Luftwaffe bombardiert. Vorräte und Krankenstationen erleiden Attacken. Vorräte verbrennen.

Neben solchen Meldungen tauchen immer wieder Aufrufe an «die Behörden und die Kampftruppen in allen Provinzen des Landes» auf, die Kämpfe einzustellen und sich den Mudschahedin anzuschließen«. Die Tür, so heißt es, sei »immer offen«. Wenn die Taliban-Propaganda nicht total neben der Wahrheit liegt, wird diese Tür genutzt. Beispielsweise in der südafghanischen Provinz Helmand. Laut einer Meldung vom Dienstag schlossen sich nach einer Belagerung von Laschkar Gah, der Hauptstadt Helmands, 69 Soldaten und Polizisten der neuen Macht an. »Alle haben von der Predigt- und Beratungskommission des Islamischen Emirats Sicherheitskarten erhalten und sie haben auch geschworen, niemals in die Reihen des Marionettenregimes zurückzukehren.« Heißt es.

Am Freitag war die kleine Provinzhauptstadt Sarandsch in Nimrus an der iranischen Grenze kampflos an die Taliban gefallen. Am Samstag folgte die Stadt Scheberghan in Dschusdschan im Norden. Damit sind binnen weniger Tage fünf Provinzhauptstädte von den Taliban übernommen worden.

Zweifel an den hohen Opferzahlen

Im Krieg ist unabhängige Berichterstattung unmöglich. Diese Ansicht teilen vermutlich auch der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof (BGH) Dr. Ullrich Herrmann, und der am gleichen Gerichtshof tätige Richter Harald Reiter. Beide veröffentlichten in der jüngsten Ausgabe der »Neuen Juristischen Wochenschrift« einen Leserbrief. Fast zwölf Jahre nach einem Luftangriff bei Kundus, den der damalige Bundeswehr-Oberst Georg Klein befohlen hatte, behaupten die Juristen, dass die Zahl der zivilen Opfer bei der Bombardierung zweier von Taliban entführter Tanklaster am 4. September 2009 in der öffentlichen Darstellung übertrieben und »ein Propagandaerfolg der Taliban« sei.

Die Richter waren im Oktober 2016 am Urteil des BGH zu dem Fall – der als »Kundus-Affäre« in Berlin allerlei politische Konsequenzen hatte – beteiligt. Das Gericht lehnte die Ansprüche von Afghanen auf Schadenersatz nach der Bombardierung und dem Tod ihrer Angehörigen ab. Das Bundesverfassungsgericht hatte auch die Beschwerde dagegen im Dezember vergangenen Jahres abgelehnt. Strafrechtliche Vorwürfe gegen den später zum General ernannten Klein hatte das Verfassungsgericht bereits 2015 als letzte deutsche Instanz nicht zugelassen. Der EU-Gerichtshof wies im Februar dieses Jahres eine Klage wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zurück.

Vehement bestreiten die Juristen die hohe Opferzahl. Internationale Medien hatten von bis zu 140 im Flammenmeer getöteten Menschen berichtet. Herrmann und Reiter sagen: Von den zu Beginn gut 100 Menschen vor Ort habe sich der Großteil umgehend in Richtung des Dorfs entfernt. Vor den Bombenabwürfen hätten sich noch 30 bis 40 Personen im Bereich der Tankfahrzeuge befunden, »und dies waren sicherlich keine Zivilisten mehr, geschweige denn Kinder«. Die Afghanistan-Truppe ISAF, so die zu den höchsten Richter Deutschlands zählenden Juristen, hätten Spuren von lediglich 12 bis 13 getöteten Personen gefunden. »Es ist sehr ärgerlich, dass diese öffentlich zugänglichen Quellen, die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln, von der Allgemeinpresse ungenutzt blieben.«

Herrmann und Reiter behaupten, den echten Sachverhalt zu kennen; die wahren Umstände seien »für die politische Bewertung und für das Ansehen der Bundeswehr von hoher Relevanz, weshalb uns eine Klarstellung geboten erscheint«.

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