Die verschwundene Ewigkeit

Zwei konträre Sichten auf die Berliner Mauer: Bürgerrechtler Tom Sello versus General Fritz Streletz

Wer kann die Pyramiden überstrahlen?/ Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower / Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen/ Der Erdenwunder schönstes war die Mauer«, dichtete der Dramatiker, Nonkonformist und Provokateur par excellence Peter Hacks. Und erntete Entsetzen,in allen Lagern.

Die ersten Stadtstaaten der Menschheitsgeschichte in Mesopotamien, Tigris, Uruk, Ur und Babylon, waren von mächtigen, unüberwindbaren Mauern umgeben, wovon heute noch im Pergamonmuseum auf der Berliner Museumsinsel das prachtvolle Ischtar-Tor zeugt. Der Limes, von den alten Römern errichtet, um unter anderem die Barbaren aus »Germania« (Tacitus) fernzuhalten, ist Weltkulturerbe. Auch der Hadrianswall quer durch Britannien, der das römische Imperium vor den wilden Highlandern schützen sollte. Seinen »Sonnenstaat«, Utopie eines egalitären Gemeinwesens, konnte sich der italienische Philosoph Tommaso Campanella nicht ohne Mauern vorstellen. Sein Werk »La città del Sole« erschien 1623, ein Klassiker der Weltliteratur

Dass die Relikte der Berliner Mauer irgendwann zum Weltkulturerbe ernannt werden, steht nicht zu erwarten. Nicht nur weil sie monströs und hässlich war, erst nach Einbüßung ihrer Abschreckung und Aussperrung auch auf östlicher Seite mit Graffiti und hernach Gemälden von Künstlern aus aller Welt verschönt. Sie galt und gilt als Symbol der Unmenschlichkeit. Und ist doch oder gerade deshalb ein Sammlerobjekt, nicht nur bei Berlin-Touristen, die mit feuchten Augen mitunter echte, vielfach gefakte Betonsplitter mit einer Spur Farbe für nicht wenig Geld erstehen. Rund um den Globus sollen in über 40 Städten mehr als 120 tonnenschwere Segmente des Bauwerks stehen, das zum Symbol für den Kalten Krieges wurde und doch och immer unterschiedlich interpretiert wird.

Tom Sello, 1957 im schönen Meißen geboren, ist überzeugt, dass die Grenzschließung am 13. August 1961 »dem Machterhalt der kommunistischen Führung diente, der die Menschen davonliefen«, wie er im Gespräch mit »nd« sagt. Er selbst habe sich trotz des Weggangs vieler Freunde – »Jedes mal ein großer Verlust, eine Trennung für die Ewigkeit, wie wir glaubten« – entschlossen, in der DDR zu bleiben. Obwohl seine Verweigerung des Wehrdienstes in der NVA ihm sein Studium vereitelte. Als er später, Handwerker beim Sozialistischen Handelsbetrieb Möbel, in einem Gebäude am Berliner Grenzübergang Chausseestraße Fenster zumauern sollte, sträubte er sich: »Ich beteilige mich nicht daran, mich selbst einzumauern.« Der Vorfall blieb ohne Konsequenzen für ihn, »weil der Bauleiter einen anderen Kollegen beauftragte und die Sache unter den Teppich kehrte«.

Sello, Berliner Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, gehörte seit Anfang der 80er Jahre zur DDR-Opposition, hat für Samisdat-Blätter wie den »Telegraph« gearbeitet und Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 mit aufgedeckt. Auf nd-Nachfrage bestätigt er, dass an der Berliner Mauer mindestens 140 Menschen starben – erschossen, Schussverletzungen erlegen oder ertrunken. Darin einbegriffen sind auch die acht DDR-Grenzsoldaten, die ihr Leben an der sensibelsten und gefährlichsten Grenze zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation verloren. Etwa Egon Schultz, dessen tragischen, einem Irrtum geschuldeten Tod Jahrzehnte später Jugendfreund Michael Baade recherchierte und und in dem Buch »Der Tod des Grenzsoldaten« aufschrieb. Zwar die berühmteste und berüchtigtste, aber wohl nicht die mörderischste Grenze war die Berliner Mauer. Allein in diesem Jahr sind bis dato wieder über 1000 Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Männer im Mittelmeer ertrunken, Opfer rigider europäischer Abschottungspolitik.

»Es war keine innerdeutsche Grenze, wie immer wieder behauptet wird. Es war die Frontlinie zwischen den stärksten Militärpakten jener Zeit«, betont Fritz Streletz, 1926 im oberschlesischen Friedrichsgrätz (poln. Grodziec) geboren. Der einstige Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee, NVA, und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR schloss gerade sein Studium an der Generalstabsakademie in Moskau ab, als die Grenze zwischen Ost- und Westberlin hermetisch abgeriegelt wurde. »Wir wurden noch am gleichen Tag von unserem Militärattaché informiert«, erinnert er sich im Gespräch mit »nd«. Eine Überraschung sei es nicht gewesen, »seit Anfang des Jahres 1961 war klar, dass etwas geschehen würde. Und dass darüber letztlich die sowjetische Führung und die Warschauer Vertragsstaaten entscheiden würden.«

Streletz, der in den sogenannten Mauerschützenprozessen in den 90er Jahren zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden ist, beteuert, jeden einzelnen Todesfall an der Grenze zu bedauern. »Kein einziger war gewollt. Und nicht nur, weil dadurch der Sozialismus Schaden nahm.« Mit seinem ehemaligen Vorgesetzten, dem 2017 verstorbenen DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler, ebenfalls ein gebürtiger Schlesier und wie er noch in die Wehrmacht gezwungen, hatte er seine Sicht auf die Geschichte der deutsch-deutschen Grenze vor Jahren in einem Buch dargelegt, das dieser Tage mit einem aktuellen Vorwort in der Edition Ost neu aufgelegt wurde: »Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben«. »Moskau beschloss und Washington tolerierte die Maßnahme. Aufgabe beider Seiten wäre gewesen, diese in der Folgezeit politisch zu überwinden. Gelang nicht. So kam es, wie es gekommen ist.«

Streletz meint, dass die Berliner Mauer mit keiner Grenzanlage in der Welt vergleichbar sei. Sie habe eine Vorgeschichte, die bis zum 30. Januar 1933 zurückreiche, dem Machtantritt der Nazis in Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg entfesselt und letztlich die deutsche Teilung verursacht hatten. Walter Ulbricht sei sich der Konsequenzen des Mauerbaus bewusst gewesen. Streletz zitiert den seinerzeitigen Partei- und Staatschef: »Jeder Schuss an der Mauer ist zugleich ein Schuss auf mich. Damit liefere ich dem Klassenfeind die beste Propagandawaffe. Den Sozialismus und damit den Frieden aufs Spiel zu setzen, würde aber unendlich mehr Leben kosten.« Der Kommentar des Militärs: »Es war eine pragmatische, von den Umständen erzwungene Güterabwägung.« Nicht für die Ewigkeit gedacht und doch scheinbar ewig.

Bis zum 9. November 1989. Tom Sello wirkte an einer neuen Ausgabe des »telegraph« im Keller der Umwelt-Bibliothek. »Da hatten wir einen kleinen Fernseher. Und als Schabowski was von einer neuen Reiseregelung sagte, hielt ich das nur für ein neuerliches falsches Versprechen.« Dann jedoch strahlte das Westfernsehen die ersten Bilder von gestürmten Grenzübergangsstellen aus. Sello eilte hinauf zu seinen Mitstreitern: »›Hey Leute, die haben die Grenze aufgemacht.« Und musste den Satz vier, fünf Mal wiederholen. Bei Streletz liefen derweil die Telefone heiß. Die sowjetischen Genossen verlangten Aufklärung von den deutschen, Moskau wollte wissen, was da in Berlin los ist.

»Wir hatten Glück, dass die Revolution friedlich, ohne Blutvergießen verlief«, bekundet Sello. Er weiß natürlich: »Wir leben nicht im Himmelreich.« Mit Blick auf Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland sagt er: »Es wird immer Menschen geben, die die Demokratie in Frage stellen. Wir alle sind herausgefordert, die demokratische Gesellschaft zu schützen und zu gestalten.« Den Gedenkmarathon, den er dieser Tage absolviert, sieht er als seinen Beitrag dafür: Geschichte Nachgeborenen zu vermitteln, um zu sensibilisieren. Sello, mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, wünscht sich einen »öffentlich zugänglichen Erinnerungsort« im ehemaligen Präsidium der Volkspolizei in der Keibelstraße am Berliner Alexanderplatz. Denn: »Dort tagte der Einsatzstab für den Mauerbau. Die Volkspolizei war wesentlich eingebunden.« Eine Machbarkeitsstudie sei bereits erarbeitet. Die Entscheidung liege jetzt beim Senat. Und nein, Sello fürchtet nicht, dass Berlin von Gedenkorten überfrachtet werde.

Für Streletz hingegen scheint »vieles ritualisiert«. Aber dem gilt nicht sein Hauptaugenmerk. Für den aktuelles Geschehen weiterhin aufmerksam beobachtenden Generaloberst a. D. besorgniserregend sind die Nato-Manöver gegen Russland, Nato-Panzer im Baltikum, Nato-Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer: »Ein Funke genügt, das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Vor 60 Jahren gelang es, diesen gemeinsam auszutreten.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.