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Seelisches Großreinemachen
Jürgen Wiebicke erzählt in »Sieben Heringe« vom Sterben seiner Eltern und ihren Erinnerungen an den Krieg
a sich ganz allmählich das Gefühl breitzumachen scheint, dass wir endlich nun doch einer tödlichen Pandemie von der Schippe gesprungen sind, dürften demnächst wohl erst einmal noch weniger Menschen als sonst freiwillig über Tod und Sterben nachdenken wollen. Und doch ist vielleicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für den Gedanken, dass der Tod nun einmal unweigerlich zum Leben dazugehört, auch wenn er freilich idealerweise erst dann eintritt, wenn nach einem langen Leben die Zeit dafür gekommen ist – auch wenn sich das wohl kaum jemals so anfühlen dürfte.
Der Journalist Jürgen Wiebicke hat zwei Jahre vor Corona in kurzem Abstand seine hochbetagten Eltern in den Tod begleitet und nun ein grandioses Buch darüber geschrieben. Er geht dabei allerdings ganz anders vor als Christian Berkel in seinem ähnlich beeindruckenden Roman »Der Apfelbaum«, der ebenfalls damit beginnt, dass ein Sohn die letzten Gespräche am Lebensabend der Mutter aufzeichnet, als der Vater bereits gestorben ist. Doch in »Sieben Heringe« ist diese Konstellation nicht bloßer Rahmen für einen weit ausgreifenden Familienroman wie bei Berkel. Wiebicke bleibt stattdessen in seinem Memoir stets bei dieser Ausgangssituation, beschränkt sich auf die Rolle des reflektierenden Mitschreibers, der seine Mutter ihre Geschichte weitgehend selbst erzählen lässt.
Wiebickes 88-jährige Mutter hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben beginnt, gezielt von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu erzählen, den sie als Kind und Jugendliche miterlebt hat. Das bis dahin lebenslange »Schweigen der Kriegskinder« ist eines der zentralen Themen von Wiebickes Buch. An einer Stelle kommt die Mutter seines Vaters zu Wort, die kurz nach Kriegsende und nach der Vertreibung aus dem Osten, auf dem Weg nach Köln, ihre Tochter auf den richtigen Umgang mit den Erlebnissen rund um die traumatische Besetzung ihres Dorfes durch die Rote Armee einschwört: »Uns wird sowieso keiner glauben, also sagen wir nichts.«
Wiebicke hält das für eine Fehldeutung, um einer anderen unangenehmen Wahrheit zu entgehen, mit der er das etablierte Narrativ von Verdrängung und der »Unfähigkeit zu trauern« ergänzt: In einer Zeit, in der alle gerade ähnlich schlimme Erfahrungen hinter sich hatten, wären die von Wiebickes Großmutter und Tante wohl kaum weniger glaubhaft gewesen. Es hätte nur schlicht niemand davon hören wollen, weil alle mit der eigenen Not beschäftigt waren. Also lieber gar nicht erst damit anfangen: »Millionen einzelne Schweigepakte, so stelle ich es mir vor, fügten sich zum lange wirksamen kollektiven Verstummen eines ganzen Landes.«
Wiebickes Mutter wird 1944, 14-jährig, zum Landdienst der Hitlerjugend eingezogen, muss dort morgens barfuß im Schnee zum Fahnenappell strammstehen, tagsüber auf dem Feld arbeiten und abends todmüde Briefe an die Front schreiben und patriotische Lieder singen – im Stehen, damit niemand einschläft. Davor hatte das Mädchen schon schwerstverletzte Kriegsheimkehrer im Großlazarett am Kölner Hauptbahnhof versorgt und durch Brandhitze auf Kindergröße geschrumpfte Bombenleichen gesehen. Das Kriegsende mit brennenden Städten, Tieffliegerbeschuss und noch beim Einmarsch der Amerikaner erschossenen Deserteuren erlebt sie in Franken, weil der Vater in Nürnberg in der Rüstungsindustrie arbeitet.
Die im Sterben Liegende erzählt diese Geschichten nun über Wochen hinweg, in immer neuen Ansätzen, ihren eigenen Widerständen trotzend, manchmal fast so, »als müsste sie ihre Erlebnisse erbrechen«. Es ist ein »seelisches Großreinemachen«, dessen bewegter Zeuge der Sohn wird – und uns auf bewegende Weise daran teilhaben lässt. Hin und wieder schleichen sich auch heitere oder gar romantische Momente in die Erzählung ein. Etwa wenn Wiebickes Mutter 1947 beim Pflücken von Kaninchenfutter ihrem späteren Mann begegnet.
Und doch ist im Grunde schon mit dessen erstem Satz die Romantik des Kennenlernens in die Pragmatik der Versorgergemeinschaft überführt: »Wir machen das zusammen.« Wiebickes Vater war, 20-jährig, in den letzten Kriegswochen an der Ostfront verwundet worden, nach einem endlosen Rückzug in Westfalen im Lazarett gestrandet und anschließend in Kriegsgefangenschaft gekommen, aus der er wegen seiner landwirtschaftlichen Kenntnisse frühzeitig entlassen wurde. Mit einem Kameraden ging er nach Köln, weil er in die Heimat im heutigen Polen nicht zurückkonnte.
Bemerkenswert ist es, wie Wiebicke hier über die kriegsbedingte Umkehr der Standesverhältnisse reflektiert. Die Familienmitglieder seines Vaters waren wohlhabende Großbauern in Ostbrandenburg gewesen, doch in Köln waren sie vertriebene »Pimocken«, die alles verloren hatten – inklusive des eigenen Vaters, der schwer krank noch nach Sibirien verschleppt worden war. Die Proletarierfamilie von Wiebickes Mutter, die man vorher wohl selbst kaum bei sich hätte einheiraten lassen, blickte auf die Geflüchteten herab und wollte nun ihrerseits eine Heirat unbedingt verhindern. Freilich erfolglos.
An seinem »roten« Opa muss Wiebicke auch seine eigenen blinden Flecken erkennen. Als aufrechten Sozialdemokraten hatte er den Vater seiner Mutter stets als widerständigen Helden idealisiert und dabei nie kritisch nachgehakt, wenn er auch später noch unliebsame Menschen mit dem kölschen »Dat es eene Jüd« bedachte. Die »unübersehbare Neigung, die eigene Familiengeschichte schönzufärben«, schlummerte auch in Wiebicke selbst.
Doch auch in seine Eltern hatte sich das »Nazigift« hineingefressen. Er nennt ihre Generation der Kriegskinder »unschuldig schuldig«: zu jung, um schon wirklich zu wissen, was sie taten, aber alt genug, um mindestens zu Mittätern werden zu können. Diese »seelisch Verwüsteten« wurden zwar nie müde, Heiter-Anektdotisches aus der Kriegszeit zum Besten zu geben, haben aber über die wahrhaft existenziellen Momente von Schuld und Leid bis ins hohe Alter geschwiegen. Doch im Unterschied zu den Eltern der 68er, die unter den bisweilen allzu selbstgerechten Anklagen ihrer Kinder ihre Geschichten meist mit ins Grab nahmen, gelingt es den Kriegskindern heute immer öfter, sich zum Lebensende noch davon zu befreien. Wohl auch, weil ihre eigenen Kinder sich heute um eine gemäßigtere Haltung bemühen.
So informiert Wiebicke (Jahrgang 1962) zwar uns Lesende immer mal wieder darüber, dass Hitlerdeutschland all die Schrecken ja letztlich selbst über sich gebracht habe. Aber er sieht davon ab, seine im Sterben liegenden Eltern noch einmal darüber zu belehren. Und doch liegt ein wichtiger Grund für sein Buch darin, dass »der Abtritt der Generation meiner Eltern zeitlich zusammenfällt mit der Wiederkehr der Hassbereiten und Geschichtsrevisionisten«. Nun, da »die historische Lektion derer, die genug Blut im Leben gesehen hatten, allmählich verblasst«, sehnen sich einige schon wieder »nach dem geistigen Bürgerkrieg«.
Wiebickes Versuch, dieser Geschichtsvergessenheit etwas entgegenzusetzen, ist zugleich politische Mahnung wie philosophische Übung in der Kunst des Sterbenlernens. Vor allem aber ist es das tief bewegende, hoch eindrucksvolle Porträt von früh versehrtem Leben – das Wiebickes Vater gleichwohl stets nur auf die erstaunliche Formel zu bringen wusste: »Ich habe im Leben doch immer nur Glück gehabt.«
Jürgen Wiebicke, Sieben Heringe: Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben. Kiepenheuer & Witsch, 256 S., geb., 20 €. Hörbuch, gelesen vom Autor, Argon-Verlag.
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