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Es war nicht alles schlecht
Der deutsche Spitzensport bezieht nach einer schwachen Medaillenausbeute in Tokio Prügel. Dabei steckt er längst mitten im Reformprozess
Das Ende der Olympischen Spiele von Tokio liegt nicht einmal eine Woche zurück. Für tiefgreifende Analysen war eigentlich noch keine Zeit. Und doch wurde dieser Tage ein düsteres Bild vom deutschen Sport gezeichnet: 37-mal Gold, Silber oder Bronze sowie Platz neun im Medaillenspiegel seien nur noch Mittelmaß, hieß es vor allem von ehemaligen Athleten. Die Strukturen seien verkrustet, alles müsse auf den Kopf gestellt werden. Doch ist es tatsächlich so schlimm?
Der ehemalige Weltklasseschwimmer Michael Groß zog im Interview mit t-online.de die schwärzeste Bilanz. Er kenne die Strukturen genau, hieß es bei seiner Vorstellung, schließlich saß Groß von 2000 bis 2005 im Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), einem Vorgänger des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Doch seit damals hat sich viel geändert, die 2016 angeschobene Leistungssportreform rund um das Potenzialanalysesystem PotAS erwähnte Groß nicht einmal.
Gefangen in alten Denkmustern
Der ehemalige Schwimmer forderte stattdessen wenig überraschend eine Konzentration aufs Beckenschwimmen und die Leichtathletik, weil hier mehr Medaillen errungen werden können als anderswo. Damit wirkt der 57-Jährige wie in alten Denkmustern gefangen, obwohl er ja genau das dem DOSB vorwirft. Die Vielfalt Olympias ist seit seiner aktiven Zeit so sehr gewachsen, dass in vielen Sportarten eine Menge Medaillen zu holen sind. Meistens sogar einfacher als in den beiden Kernsportarten, da weitaus weniger Länder in Slalomkanuten, Bahnradsportler oder Judoka investieren als in 100-Meter-Freistilschwimmer. Eine Verlagerung der begrenzten Fördersummen könnte die deutsche Medaillenbilanz also eher noch gefährden, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel alle vier deutschen Slalomkanuten eine Medaille holten, 91 Leichtathleten aber nur drei.
Groß fordert wie vor 15 Jahren eine reine Leistungssportorganisation, getrennt vom DOSB. Wie schädlich aber eine Spaltung von Leistungs- und Breitensport sein kann, zeigen die ewigen Querelen zwischen dem Deutschem Fußball-Bund und der Deutschen Fußball-Liga. Dass die Bundesligaklubs nicht einen einzigen Nationalspieler für Olympia freistellten, spricht Bände. Auch im Basketball sind die Profiligen längst autark unterwegs und stellen ihre besten Akteure nicht mehr für Länderspiele ab. Dass sich die deutschen Männer dennoch für Tokio qualifizierten und dort bis ins Viertelfinale vorstießen, war schon ein Erfolg. Bei der Medaillenzählerei aber fallen sie als Achte hinten runter.
Im Vergleich zu den vergangenen Ausgaben fiel die Edelmetallbilanz von Tokio tatsächlich schwächer aus. Mit etwas Glück und einem Olympiasieg mehr wäre aber schon Platz sieben drin gewesen. Doch die junge Bahnradweltmeisterin Emma Hinze fiel konditionell dem engen Zeitplan zum Opfer und wurde Vierte. Fünfkämpferin Annika Schleu hätte wohl mit jedem anderen Pferd Gold geholt. Und der neue Stadionbelag war für Johannes Vetters Anlauf im Speerwurf ungeeignet. Die Liste der knapp oder unglücklich verpassten Chancen ließe sich im Karate, Hockey oder Zehnkampf fortsetzen.
Betrachtet man also nicht nur die Medaillenzahl, sondern alle Finalplätze von eins bis acht, bleiben die USA, China, Japan, Großbritannien und Russland für die deutschen Athleten außer Reichweite. Aber mit 114 Finalplätzen ließen sie Niederländer, Franzosen, Australier klar hinter sich. Dirk Schimmelpfennig kennt die Statistik des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften. Der für den Leistungssport zuständige DOSB-Vorstand will die geringe Medaillenausbeute damit zwar nicht schönreden. »Aber wir hatten durchaus eine vergleichbare Zahl an weiteren Medaillenkandidaten in Tokio. Es muss bis Paris 2024 gelingen, die Zahl der Finalplatzkandidaten noch etwas zu erhöhen und die dann häufiger auf dem Podium zu sehen«, sagt Schimmelpfennig im nd-Gespräch.
Seine Kritiker vergleichen die aktuellen Zahlen gern mit denen von 1992, als das gerade vereinigte Deutschland mit 82-mal Edelmetall noch Dritter im Medaillensammeln wurde. Allerdings wird dabei ignoriert, dass die Sportwelt seit den Spielen von Barcelona viel diverser geworden ist. Mehr Nationen haben gute Sportprogramme aufgebaut oder schicken ihre besten Athleten zur Ausbildung an Colleges in die USA. 1992 gewannen nur 64 Länder Medaillen - knapp 30 Jahre später sind es nun schon 93. Davon stellen 65 sogar Olympiasieger. Überall auf der Welt gibt es herausragende Athleten. Zwei Ruderer in Irland oder eine Triathletin auf Bermuda reichen auch für Gold. Es muss nicht immer ein Ruder-Achter oder eine ganze Handballmannschaft sein.
Jene irischen Ruderer wurden übrigens schon vor Jahren in ein Boot gesteckt und gesondert gefördert. Der Ruf nach einer solchen Zentralisierung der besten Kräfte wird auch oft in Deutschland laut, doch Schimmelpfennig kontert: »Wir haben mit dem Olympischen und Paralympischen Trainingszentrum in Kienbaum einen Ort, an dem viele Zentralmaßnahmen der Spitzenverbände unter optimalen Bedingungen stattfinden. Wir haben aber in Deutschland auch ein bewährtes Bundesstützpunktsystem, selbst wenn einige dies schon als zu stark konzentriert empfinden. In Bundes- und Landesstützpunkten können sich Athletinnen und Athleten im langfristigen Leistungsaufbau in der Region unter Leitung guter Trainer entwickeln.« Alles an einem einzigen Ort zu konzentrieren hält der DOSB-Funktionär für weniger sinnvoll als den dezentralen Aufbau vom Nachwuchs- bis in den Spitzenbereich, auch wenn die Niederländer gerade erfolgreich einen anderen Weg gehen. »Für die ist das Zentrum in Papendal offensichtlich der richtige Ansatz«, sagt Schimmelpfennig, aber übertragbar sei das nicht. »An den Stützpunkten haben wir auch immer die duale Karriere im Blick und bieten für Kaderathleten parallel auch die Eliteschulen oder später Möglichkeiten zu Ausbildung und Studium an.« In der nötigen Anzahl wäre dies an einem einzigen Ort in Deutschland gar nicht zu leisten.
Ausschließen will er Konzentrationen bei den Senioren aber nicht: »Man kann überlegen, ob das für manche Sportarten sinnvoll ist. Das Hauptargument für die Athleten ist, bei einem guten Trainer in einer guten Trainingsgruppe zu trainieren. In einigen Sportarten haben wir das schon, dann wird an den Bundesstützpunkten nur die Nachwuchsförderung betrieben«, so Schimmelpfennig.
Die ehemalige Hochspringerin Heike Henkel sieht in der hohen Abbrecherquote unter jungen Sportlern das Hauptproblem. Kommen nicht genügend Talente oben an, sinke automatisch die Medaillenzahl, lautet die Logik. Leider würden Computer und Handys die Kinder aber heutzutage vom Sport fernhalten, kritisierte sie im Gespräch mit web.de. Dabei gab es eine fast deckungsgleiche Debatte auch schon zu ihren aktiven Zeiten, als die ach so faulen Pubertierenden angeblich nur noch vor der Glotze hingen.
»Natürlich gibt es im Leistungssport immer eine Drop-out-Quote. Die ist gewissermaßen mitgedacht. Manche Verbände beklagen zudem einen Leistungseinbruch im U23-Bereich«, streitet Schimmelpfennig das Phänomen gar nicht ab. Das Problem sei aber im Grunde erst nach dem Schulende lösbar. 14-Jährige interessiere nicht, wie hoch mal die Medaillenprämien sein werden oder wo welcher Studienplatz offen wäre. »Ein talentierter Jugendlicher will in erster Linie seine Sportart so erfolgreich wie möglich betreiben. Stellt der Weg an die Weltspitze ein realistisches Ziel dar, muss ihm der Verband den Weg dahin mit allen Schritten aufzeigen und die notwendigen Bedingungen schaffen. Der Leistungssport ist dann natürlich mit persönlichen Einschränkungen verbunden, aber diejenigen, die in Tokio Medaillen gewonnen haben, sind diesen Weg über Jahre konsequent gegangen«, sagt Schimmelpfennig. Die Niederländer und Briten hätten jedenfalls auch nicht mehr Talente als der DOSB.
Reformerfolge erst nach vielen Jahren
Doch warum gewinnen andere dann häufiger? Michael Groß meint, der deutsche Dachverband gehöre professionalisiert: keine Ehrenamtler mehr, die dazwischenreden. Dabei gibt es längst einen hauptamtlichen DOSB-Vorstand. »Durch die neue Leistungssportstruktur treiben wir die Professionalisierung des Personals bereits voran. So bewertet PotAS die Verbände auch dahingehend, ob Verantwortung und operativer Einfluss für den Leistungssport im Hauptamt liegen«, sagt Schimmelpfennig. Da das aber erst jetzt passiert, konnten erwartete Vorteile in Tokio noch nicht sichtbar werden. In Gänze greift PotAS frühestens 2024. Der ganz große Sprung soll sogar erst 2028 geschafft sein.
Tatsächlich brauchen Strukturreformen viel Zeit. Der Deutsche Handball-Bund will seit zwei Jahren verstärkt Trainer an Schulen schicken, um dort Talente zu entdecken und zu fördern. Für Tokio half das natürlich noch nicht. Selbst 2024 dürfte es noch keines der neu entdeckten Kinder zu Olympia schaffen. Der Basketballklub Alba Berlin schickt seit 2005 seine Trainer an Schulen. Erst 2020 aber wurde er nach zwölf Jahren Pause mal wieder Meister.
In weniger gut betuchten Sportarten wäre ein deutschlandweites Scouting finanziell zudem gar nicht zu stemmen. Mehr Geld will die Politik aber nicht lockermachen, schon gar nicht jetzt im Wahlkampf. Die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages Dagmar Freitag (SPD) polterte bereits, »der Ruf nach mehr Geld sollte jetzt nicht an erster Stelle stehen«. Dabei stellt niemand aus dem organisierten Sport diese Forderung. »Unsere Leistungssportstruktur ist in den letzten Jahren von der Politik durch Fördermittel unterstützt worden. Jetzt geht es darum, die Strukturen noch effektiver zu nutzen und die Leistungssportreform konsequent umzusetzen«, sagt auch DOSB-Vorstand Schimmelpfennig. »Wir müssen uns auf Inhalte konzentrieren, auf die Potenziale, also die Kandidaten, die in Paris unter die ersten acht kommen und vielleicht den Sprung aufs Podest schaffen können. Die dafür nötigen Leistungsniveaus müssen die Spitzenverbände bis dahin gezielt entwickeln.«
Die Athleten interessiert das Gesamtergebnis der Nation übrigens gar nicht. »Der Medaillenspiegel ist für mich nicht relevant«, sagte etwa Tischtennisprofi Dimitrij Ovtcharov, nachdem er mit Silber und Bronze aus Tokio heimgekehrt war. Gerade sein Beispiel zeigt, wie abhängig auch Deutschland mittlerweile von individuellen Leistungsträgern ist. Für Medaillen braucht es Ausnahmekönner wie Schwimmer Florian Wellbrock oder Weitspringerin Malaika Mihambo. Eine Konzentration auf wenige Athleten, die damit einherginge, andere Sportarten komplett fallen zu lassen - wie etwa in Großbritannien - will aber in Deutschland niemand.
Muss es denn immer Weltspitze sein?
Das Gießkannenprinzip ist aber auch hierzulande längst Geschichte: 16 Verbände haben in Tokio Medaillen gewonnen, einige weitere zumindest Finalplätze erreicht. Andere konnten sich nur für Olympia qualifizieren, manche nicht einmal das. Die ersten beiden Gruppen müssten bis 2024 anders gefördert werden als die letzten, sagt der DOSB-Sportvorstand. Ihr Medaillenpotenzial sei schließlich erwiesen. In anderen Sportarten werde der Verband erst einmal analysieren, ob die Weltspitze so schnell überhaupt erreicht werden kann. Ansonsten müsse auf Basis der PotAS-Daten eine gezielte Förderung für 2028 her.
»Fehlt das Potenzial für Paris, bedeutet das für einige Verbände dann einen Neuaufbau im Nachwuchsbereich, durchaus mit geringerer Mittelausstattung. Bei Verbänden ohne international konkurrenzfähige Spitze wird die Unterstützung in diesem Bereich reduziert. Bei Verbänden ohne Potenziale und überzeugende Nachwuchskonzepte ist die Förderung generell infrage gestellt«, stellt Schimmelpfennig klar.
Bleibt die Frage, ob Deutschland überhaupt zu den »Top 5« gehören muss, wie es Michael Groß forderte. Der DOSB wäre sicher gern ganz oben mit dabei, aber auch Dirk Schimmelpfennig kennt die Diskussion um den Stellenwert des Leistungssports in Deutschland. Will man erfolgreiche Athleten um jeden Preis, oder reichen herausragende Persönlichkeiten, die ein paar besondere Momente schaffen? »Wenn wir mehr erfolgreiche Athleten sehen wollen«, sagt Schimmelpfennig, »müssen wir sie entsprechend konsequent aufbauen - völlig unabhängig vom Medaillenspiegel. Wir haben Athletinnen und Athleten, die international erfolgreich sein wollen und können. Diesen müssen wir noch gezielter und effektiver die Möglichkeit geben, sich kontinuierlich bis in die Weltspitze zu entwickeln.«
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