• Politik
  • Taliban kontrollieren Kabul

»Die Regierung hat uns alle im Stich gelassen«

Die afghanische Gesellschaft ist gespalten: Viele fürchten die Taliban und das, was ihre Herrschaft bedeuten könnte, andere bejubeln ihren Sieg

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwanzig Jahre lang war das Versprechen der Taliban: Wenn wir an die Macht kommen, herrscht Recht und Ordnung. In der Sprache der Islamisten bedeutet das konkret, eine Frau kann nicht mehr machen, was sie will. Dafür stirbt niemand durch eine Autobombe auf dem Weg zum Einkauf. Nun ist es so weit: Am Sonntag eroberten Talibankämpfer nach 20 Jahren Krieg und einem blitzartigen Abzug der NATO-Streitkräfte in den vergangenen Wochen auch die afghanische Hauptstadt Kabul. Es gab nur vereinzelt Widerstand. Präsident Aschraf Ghani floh ins benachbarte Tadschikistan. Die Regierung und all ihre Ordnungskräfte seien am Tag danach wie verschwunden, berichtet der Student Ahmed aus Kabul, 20 Jahre alt. Ahmed ist nicht sein echter Name.

»Manche Läden sind offen, manche geschlossen«, berichtet er nach einem Spaziergang durch sein Viertel im Stadtzentrum. »Aber überall sind bewaffnete Taliban.« Sie ziehen in die Ministerien, übernehmen die hinterlassenen Transporter und Waffen der Regierungstruppen, die die Nato über die vergangenen 20 Jahre ausgebildet hatte, erzählt er. Auch in den größten afghanischen Nachrichtensender Tolo-News seien sie eingedrungen.

Sicherheit gegen Freiheit?

»Die Regierung hat uns alle im Stich gelassen«, sagt Ahmed, »und man sieht schon auf den ersten Blick: Die Taliban werden dieses Vakuum schnell füllen.« Die Talibanführung habe bereits Verstärkung angefordert, um ihrem Versprechen nach Sicherheit nachzukommen und Plünderungen zu unterbinden, die in ihrer ersten Herrschaftsnacht begonnen hatten. Nach 20 Jahren Krieg lebten laut Angaben des afghanischen Wirtschaftsministeriums im Jahr 2020 bereits 90 Prozent der Bevölkerung unter der von der Weltbank festgelegten Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar am Tag.

Wie genau die Herrschaft der Taliban aussehen wird, weiß Ahmed genauso wenig wie alle anderen Afghanen in diesen Tagen. Sehr wahrscheinlich wird sie wenig Gutes bringen. In den 1990er Jahren durften unter ihrer Herrschaft keine Frauen in die Schule, Musik war verboten, Fernsehen auch. Doch nach 20 Jahren Krieg und Instabilität ist das ein Preis, den viele Afghanen bereit sind zu zahlen, sagt Ahmed. »Vielleicht bringen sie wirklich Sicherheit«, denkt er, »aber für mich ist das kein Argument, alle Fortschritte und vor allem alle Freiheiten aufzugeben.«

Seine Schwester ist am Tag zuvor mit dem Flugzeug in die USA geflogen – sie war eine der wenigen, die es geschafft haben. Für Ahmeds Familie ist die Übernahme der Taliban »die wohl schwerste Prüfung, die wir ertragen mussten«, erzählt er. Er habe Angst um seinen Vater, der als Beamter im Justizministerium arbeitet, Angst um seine kleinen Brüder, die nun in die Schule kommen sollen und unter der Herrschaft der Islamisten groß werden, und auch Angst um sich.

Schweigemarsch statt Zapfenstreich
Daniel Lücking über die fragwürdige Verantwortungskultur in Politik und Bundeswehr

Die Familie hat eng mit der Regierung zusammengearbeitet, die Schwester für eine internationale NGO. »Alles ist weg, auf einmal«, erzählt er am Telefon. Viele haben es nicht rechtzeitig raus geschafft: Am Montag spielten sich am Flughafen Kabul dramatische Szenen ab: Während der Flughafen für die zivile Luftfahrt gesperrt wurde, klammerten sich verzweifelte Afghanen an die abhebenden Transportflugzeuge der US-Armee. Manche stürzten in den Tod, US-Soldaten gaben Schüsse ab, um die Menschenmassen zurückzutreiben.

Vom Rebellentum zur Regierungsmacht

Doch nicht nur Angst macht sich in Kabul breit, sondern auch Jubel. »Viele unterstützen die Taliban«, sagt Ahmed, »aus vielen verschiedenen Gründen. Auf den Straßen sieht man jubelnde Massen, die meisten davon sind von den großen paschtunischen Stämmen. Sie glauben wirklich daran, dass auf das Land nun sichere und bessere Zeiten warten.« Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, die größten Ethnien sind Tadschiken, Hazara, Usbeken und Paschtunen. Wie genau die Taliban regieren werden und wie sich das auf das wackelige Verhältnis mächtiger Stämme untereinander auswirken wird, ist unklar.

Für den Westen sterben?
Trotz vielfältiger Warnungen aus Afghanistan glaubte man in Berlin lieber eigenen Wunschvorstellungen

Der Übergang vom Rebellentum zu Regierung wird eine große Herausforderung. In 20 Jahren haben sie den Guerillakampf nahezu perfektioniert, doch regieren bedeutet Bürokratie: Nun müssen sie das verarmte und gespaltene Land verwalten. Vieles wird in den nächsten Monaten umgekrempelt werden, von einer vom Westen implementierten, korrupten und dysfunktionalen Demokratie zu einer islamischen Diktatur. Doch ganz ohne diplomatische und Handelsbeziehungen wird das nicht funktionieren. China sei bereit, »freundliche Beziehungen zu den Taliban aufzubauen«, sagte ein Regierungssprecher am Montag. Am Dienstag wollen sich die EU-Außenminister zu Afghanistan treffen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -