Der Samentransport

Spaß und Verantwortung: Olga Hohmann denkt über das Geldverdienen und Jobs in Berlin nach

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Um die Übertragbarkeit von Mechanismen des Stickertauschens im Grundschulalter auf die Mechanismen anderer Märkte ging es bereits in meiner vorigen Kolumne: Auf dem Aufklebermarkt ist Massenware wertvoller als Unikate - im Gegensatz zum Kunstmarkt, wo wenige Dinge, Einzelstücke und kleine Editionen, für sehr viel (Geld) verkauft werden.

Das weiß auch mein Freund V. (aus Grundschul-, das heißt Stickerzeiten): Er ist ausgebildeter Lastwagenfahrer und fährt Kunstwerke aus Berlin zu Sammler*innen, Museen, Galerien und privaten Käufer*innen in ganz Europa. Weil Berlin keine Stadt der Kunstkäufer*innen, sondern eine Stadt der Künstler*innen ist, summiert sich das Wenige - er fährt also Vieles von diesem Wenigen auf den Autobahnen herum. Berlin hat eine große Produktionsdichte von Kunstwerken - dafür aber eine sehr kleine Abnehmer*innenschaft: Außer Kunst wird nämlich in Berlin wenig produziert, stattdessen extrem viel (und möglichst billig) konsumiert.

Wenn es trotzdem mal zu einem Kunstproduktionsengpass kommt, arbeitet mein Grundschulfreund für die Berliner Samenbank, indem er Sperma zu Fertilitätszentren fährt. Das beinhaltet viele Samen, ist dafür aber klein - er transportiert dann also Weniges, das aber durch viele Kühlelemente geschützt ist. Jener Freund aus Stickerzeiten ist außerdem in einer anarchistischen Gewerkschaft und möchte - später - durch eine Umstrukturierung der Logistik die Welt verändern.

Ich selbst »arbeitete« ein paar Monate lang in einem Werbe-Office (sie selbst nannten sich »Kreativagentur«), in dem ich als so genannter »Content Creator« (das heißt »Inhaltsproduzentin«) vor allem dafür bezahlt wurde, anwesend zu sein. Ich musste lediglich Männern nickend dabei zuhören, wie sie »Ideen« produzierten und eine unglaubliche Menge an E-Mails empfangen, die mit Sätzen endeten wie »Let’s get these balls rolling« oder »If we improve our team performance, we can move mountains«.

Meine Aufgabe schien es zu sein, durch meinen affirmativen Charme darüber hinwegzutäuschen, dass ich in Wirklichkeit gar keine Aufgabe hatte. Wie eine Hostess bei einer Automesse, nur schlimmer - die Verführung sollte auch noch unauffällig stattfinden. Heiße Luft, die nur durch ihre Unsichtbarkeit überzeugt. Leider funktionierte die Strategie denkbar schlecht - ich redete dann wohl doch ein paar Sätze zu viel, und nach nur wenigen Tagen entwickelte ich außerdem einen starken Fluchtreflex. Das »Office« war in Mitte gelegen, direkt neben einem Café, in dem man seinen Flat White nur über eine App bestellen konnte. Es war mit zehn leeren Eiermann-Schreibtischen und diversen schwarzen USM-Haller-Sideboards ausgestattet - extrem teure (prestigeträchtige) Büromöbel, die (wie ich) ausschließlich eine repräsentative Funktion hatten.

Außer ein paar kurzen, floskelhaften E-Mails wurde im »Office« praktisch gar nichts geschrieben. Ich habe dort auch nie ein Blatt »echtes« Papier gesehen. Der Boss warf mir stattdessen zur Begrüßung und zum Abschied Kusshände zu und erzählte mir, mit welchen wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens er befreundet wäre - ansonsten war unser Kontakt eher spärlich.

Ich dachte mir immer wieder neue Gründe aus, um meinem Fluchtimpuls folgen zu können und verschwand irgendwann einfach - worauf ich, nach ein paar Wochen der angenehmen Unsichtbarkeit, freundlich per E-Mail gefeuert wurde, was ich, ebenfalls freundlich, akzeptierte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Boss sich bei unserem letzten Treffen im »real life« wie immer mit einer fröhlichen Kusshand von mir verabschiedet hat. Wahrscheinlich warf ich eine zurück.

Jetzt bin ich seit einem knappen Monat wieder Kellnerin und stehe ebenfalls bereits kurz vor der Kündigung - wieder, weil ich zu viel rede. Dieses Mal mit den gut betuchten Gästen, jene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, mit denen mein Boss angegeben hatte. Wahrscheinlich kann man dort sowieso bald nur noch über eine App bestellen, die zum Glück schweigt und höchstens mal eine Kusshand als Emoji schickt.

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