Nach der Sowjetunion

Ein Putsch im August und eine Monarchie 2.0 ohne Zaren

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor dreißig Jahren stieg Sascha auf die Barrikaden, um die Perestroika zu verteidigen. Zehn Jahre später lebte er wieder bei seiner Mutter in einem Außenbezirk Moskaus und schämte sich ein wenig, dass er zum gemeinsamen Essen nur Reis und Limonade beisteuern konnte. Sein kümmerliches Gehalt als Hochschuldozent reichte von vorn bis hinten nicht. Wie Sascha erging es vielen, die in den 1980ern den Wind der Veränderung spürten, die Hoffnung auf echte Volksherrschaft, auf ein Ende des Stillstands, ein Ende der bewaffneten Konflikte hegten - von denen der Afghanistankrieg der traumatischste für eine ganze Generation vor allem junger Rekruten war. Die Macht der bürokratischen Nomenklatura wankte unter dem Reformdruck, aber sie fiel nicht. Sie hatte fleißig Judo geübt, wich taktisch zurück, setzte nach und brachte ihre Gegner zu Fall. Und die Nomenklatura wandelte ihre Gestalt, wie der »Wandling« aus den alten Legenden und Märchen. Sie betrieb Business, erschuf Parteien (und eine passende Opposition gleich dazu) und Märkte, schwor auf das Privateigentum, das sie vorher als Staatseigentum nur verwaltet und sich rasch unter den Nagel gerissen hatte. Aus Parteisekretären wurden Präsidenten und Minister, aus Kombinatsdirektoren Oligarchen. Sie tauschten die verblassten Abbilder der Revolutionäre von 1917 gegen die Ikonen der Muttergottes und des Heiligen Georg. Die gläubigen Atheisten von einst gehen in die Kirche und wissen, dass sie sich auf die Popen verlassen können. Denn die Orthodoxie war schon immer mit den Zaren, solange die Kirchen und Klöster davon fett wurden. Der irdische Kampf um soziale Gerechtigkeit auf den Trümmern des Zarenreichs (und die vielen Opfer, die er forderte), den selbst der eher konservative Philosoph Vittorio Hösle in seiner lesenswerten Essaysammlung »Russland 1917 - 2017« (Schwabe Verlag Basel) als gerechtfertigt und als einen Meilenstein der Menschheitsgeschichte anerkennt, hat für die Herrscher der Nachfolgestaaten ausgedient. Hat er?

Die Literatur Russlands wie auch der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hatte immer eine besondere Rolle: das, was in der Philosophie, in der Staatswissenschaft, Jurisprudenz oder auf politischer Ebene nicht verhandelt wird oder verhandelt werden kann, gerinnt zu einer reflexiven, vieldeutigen, auf- und anregenden Textsammlung, die Wirkmacht beansprucht. Sie will lehren und im besten Falle zur Tat werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Ohnmacht der Intellektuellen der Zarenzeit einen Dostojewski und Tolstoi hervorbrachte und nun, über 100 Jahre nach der Revolution, wieder Intellektuelle der Stickigkeit des gesellschaftlichen Klimas über Literatur, herausragende Literatur zu entkommen suchen.

Was aber wissen wir hierzulande über jene Verhältnisse. Stimmt unsere Bilder noch? Der Literaturübersetzer Andreas Tretner sagte in einem Interview dazu: »Die russische Literatur - wenn nicht Russland überhaupt - lebt in den Herzen der deutschen Leserschaft beinahe ausschließlich in den klassischen Mustern. Was sie über Russland wissen, haben sie von da, und etwas Anderes möchten sie gar nicht wissen. Ich übertreibe natürlich, aber nicht sehr. Die Vorstellungen über die Russen sind sehr von Stereotypen geprägt (genau wie die Vorstellungen, die die Russen von sich selber haben, aber das ist ein anderes Thema).« Das gleiche gilt für Belarussen, Ukrainer, Moldawier, Georgier oder Kasachen. Wagen Sie also mit uns einen Blick auf das Andere. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

Wir stellen Bücher aus unabhängigen Verlagen vor

In dieser Ausgabe:

Maxim Ossipow: Kilometer 101
Alissa Ganijewa: Verletzte Gefühle
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn
Natalka Sniadanko: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte
Denis Osokin: Goldammern
Viktor Martinowitsch: Revolution
Lyrik aus: Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution · Antifaschismus für alle · Die Wiederkunft der Wunderkinder

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