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US-Medien schießen mit Kabul-Chaos-Berichten gegen Joe Biden
Verkehrte Welt in den USA: Während das militärfreundliche liberale Kabelfernsehen den Präsidenten hart angeht, unterstützt die Linke im Land seine Afghanistan-Politik
Seit der vergangenen Woche steht die politische Welt in den USA Kopf. Linke unterstützen Joe Biden. Dagegen sind viele Fachleute und Moderator*innen in den liberalen Fernsehsendern plötzlich sehr kritisch gegenüber dem Präsidenten. Zuvor hatten sie gegen den linken Konkurrenten Bidens, Bernie Sanders, geätzt, Bidens Arbeit nach dessen Amtsantritt hingegen nur wenig kritisiert. Das hat zumindest vorübergehend Folgen für die Zustimmungswerte von Biden, der auch deswegen den Afghanistan-Abzug möglichst schnell abgeschlossen haben will.
»Ich entwickle mich immer mehr zum Biden Bro angesichts der Art, wie die Medien sich auf ihn einschießen«, erklärte der linke YouTuber Kyle Kulinski etwa auf dem Kurznachrichtendienst Twitter angesichts der Berichterstattung zum Afghanistan-Abzug. Die Rückzugsentscheidung sei »das Beste«, was Biden jemals getan habe, so der YouTuber, der mit seinen Videokommentaren und -analysen täglich Zehntausende Menschen erreicht und mit seiner Haltung quasi stellvertretend für die Linke im Land, progressive Demokraten und die US-Friedensbewegung steht. Bei der Berichterstattung der US-Medien ginge es darum, »mehr Konsens« für mehr Krieg und zukünftige Militärinterventionen »zu fabrizieren«, so Kulinski unter Verweis auf die Medientheorie des linken Linguistikprofessors Noam Chomsky.
Er und andere verweisen darauf, dass Afghanistan in den letzten Jahren kein Thema im US-Fernsehen gewesen sei - trotz hoher Totenzahlen besonders aufseiten der afghanischen Armee: »Wo war die Empörung, als wir in einem Jahr 7400 Bomben abgeworfen haben?« Nun aber werde jeder Vorfall am Flughafen in Kabul abendfüllend besprochen.
»Der imaginierte zukünftige Blutzoll an die Taliban hat viel mehr emotionales Gewicht in der Berichterstattung als die Menschen, die in den letzten 20 Jahren gestorben sind«, so Jim Naureckas, Redakteur für die Journalismusorganisation Fairness & Accuracy in Reporting gegenüber dem Investigativportal »The Intercept«. Es gebe eine »symbiotische Beziehung« zwischen Medien, die Militärquellen bräuchten, der Waffenindustrie, die vorteilhafte Berichterstattung erreichen will, und Ex-Militärs, die neue Jobs bräuchten. Ein »The Intercept«-Artikel zeigt, wie bei rund einem Dutzend prominenter Fernsehexperten bei deren Fernsehauftritten zwar ihr ehemaliges politisches Amt, aber nicht die derzeitige Tätigkeit für Rüstungsfirmen erwähnt wurde.
Die pausenlose »Chaos-Berichterstattung« auch von liberalen Fernsehsendern zeigt Wirkung. Nachdem Bidens Zustimmungswerte im Durchschnitt der Datenjournalisten von FiveThirtyEight schon letzte Woche unter die wichtige 50-Prozent-Marke rutschten, nähert sie sich nun der Marke an, wo die Ablehnungswerte die zur Zustimmung übersteigen. Stand Mittwochmittag liegt die Zustimmung zu seiner Amtsführung bei durchschnittlich 47,6, die Ablehnung bei 47,0 Prozent. Einzelne Umfragen sehen bereits eine Nettoablehnung. Das Weiße Haus versucht derweil, dem negativen Medienklima eine positive Gegenerzählung entgegenzusetzen.
Die Evakuierungslogistik sei ein Erfolg. Bis Mittwochmittag habe man zusammen mit anderen westlichen Ländern insgesamt 82 000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen, seitdem Kabul am 14. August gefallen ist. Das seien mehr als die 5000 bis 9000 pro Tag, die man sich zum Ziel gesetzt habe; in den 24 Stunden bis Dienstagmittag seien es sogar 11 200 gewesen. Rund 200 US-Flugzeuge seien pausenlos in der Luft. Das Weiße Haus hat auch eine Reserve von Maschinen ziviler Airlines aktiviert für den Weitertransport der Evakuierten von Zwischenstationen wie Katar oder die US-Basis Ramstein in Deutschland. Und kann behaupten, dass Afghanistan zumindest empirisch nicht ein Saigon-Moment sei: Nach dem Fall der Regierung in Süd-Vietnam 1975 evakuierte man 7000 US-Bürger und vietnamesische Hilfskräfte.
Obwohl andere westliche Verbündete gerne länger evakuieren würden, will Biden auch deswegen am selbst erklärten Ende der Evakuierungsaktion zum 31. August festhalten, weil die Taliban danach keine Ausländer mehr zum Kabuler Flughafen durchlassen wollen.
Und Kulinski, der in seinen Videos sonst eigentlich das Demokraten-Establishment scharf angeht? In Sachen Afghanistan-Rückzug hat er sich zum glühenden Biden-Verteidiger entwickelt: »Wenn du dich gegen das Außenpolitik-Establishment stellst, dann machen sie dich fertig, egal wie oft du zuvor ihrer Sache gedient hast.« Der »tiefe Staat« habe sich offenbar verkalkuliert, Biden wie bereits Barack Obama und Donald Trump überzeugen zu können, an der Truppenpräsenz in Afghanistan festzuhalten.
Es bräuchte »unglaubliche Courage, der CIA, dem Pentagon, den Rüstungsfirmen und führenden Politikern in beiden Parteien den Mittelfinger zu zeigen«. Der »mürrische Opa Biden« sei in Sachen Afghanistan »in der Summe ein Gewinn«. Und Kulinski forderte Biden auf, nun auch aus dem Irak abzuziehen. »Wenn er das macht, bewerbe ich mich als sein Pressesprecher«, witzelte Kulinski auf Twitter.
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