- Politik
- Lebensarbeitszeit und Rente
Länger oder kürzer arbeiten - was ist fair?
Der eine will das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln, der andere will es senken. Ein Streitgespräch über Knochenjobs, brutale Prinzipien und Besserverdienende, die länger leben
Als Gert Wagner vor einiger Zeit in einem Gespräch mit uns sagte, dass er für ein höheres Rentenalter ist, haben wir uns gewundert: Der Wirtschaftswissenschaftler, der erforscht, wie die Lebensqualität von Menschen verbessert werden kann, plädiert dafür, dass Beschäftigte länger arbeiten sollen? Wagner schlug ein Streitgespräch mit Matthias W. Birkwald vor, der das Rentenalter nicht erhöhen, sondern im Gegenteil senken will. Der Rentenexperte sagte sofort zu.
Herr Wagner, Sie werfen der Politik vor, dass sie sich bei der Frage wegduckt, ob das Renteneintrittsalter noch weiter erhöht werden sollte. Das halten Sie für ein zentrales Thema. Auch Arbeitgeberpräsident Dulger sagte kürzlich: »Wir kommen nicht um eine Diskussion über eine längere Lebensarbeitszeit herum.« Wieso sollten sich gerade Parteien links der Mitte auf den Wunsch der Unternehmerlobby einlassen?
Gert Georg Wagner (geb. 1953) ist Ökonomie-Professor und Mitglied im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen und im Sozialbeirat der Bundesregierung. Er lebt in Berlin.
Wagner:
Viele Unternehmer wollen das gar nicht! Wichtiger ist aber, dass es mir um die Zeit nach dem Jahr 2030 geht - bis dahin steigt die Altersgrenze ja sowieso. Ich bin dafür, dass danach das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Wenn die nicht mehr steigen sollte, würde auch die Altersgrenze nicht steigen, und bei einer eventuell sinkenden Lebenserwartung automatisch nach unten gehen. Wir sollten jetzt aber als erstes darüber reden, was zu tun ist, damit bei steigender Lebenserwartung die Menschen es schaffen, länger zu arbeiten. Dafür sind mehr altersangepasste Arbeitsplätze nötig, eine bessere Gesundheitsvorsorge und eine funktionierende Weiterbildung für Ältere. Wir brauchen vor allem auch eine bessere Absicherung für Leute, die es nicht bis zur Altersgrenze schaffen. Das sind alles dicke Bretter. Wenn wir darüber erst ein, zwei Jahre vor 2030 reden, ist es zu spät. Dann passiert nichts mehr und eine dann kurzfristig weiter steigende Altersgrenze wäre in der Tat ungerecht.
Wieso ist aus Ihrer Sicht überhaupt ein höheres Rentenalter nötig?
Wagner:
Ich finde es plausibel zu sagen: Das Verhältnis zwischen Erwerbszeit und Rentenzeit sollte ungefähr konstant bleiben. Wenn also die Lebenserwartung um ein Jahr steigt, steigt die Lebensarbeitszeit um acht Monate und die Rentenzeit um vier Monate. Das entspricht meiner Vorstellung von Fairness zwischen den Generationen. Denn ein längerer Ruhestand muss nun mal durch Beitragszahler und Steuerzahler finanziert werden.
Herr Birkwald, können sie dem Argument etwas abgewinnen? Es stimmt ja, dass die Menschen schon heute im Durchschnitt vier Jahre länger Rente beziehen als etwa um die Jahrtausendwende.
Birkwald:
Ich kann diesem Vorschlag überhaupt nichts abgewinnen. Zunächst einmal: Das Renteneintrittsalter sollte nicht erhöht, sondern im Gegenteil wieder auf 65 Jahre gesenkt werden. Das wäre fair, und es ist auch finanzierbar. Derzeit haben wir mit 18,6 Prozent den niedrigsten Rentenbeitragssatz seit 20 Jahren. Wenn man die Rente erst ab 67 zurücknähme, müsste der Beitrag für die Rentenversicherung nur um 0,5 Prozentpunkte erhöht werden. Wir haben ausgerechnet, was das jemanden kostet, der oder die einen durchschnittlichen Bruttolohn von 3462 Euro verdient. Das wären gerade einmal 8,65 Euro pro Monat, die diese Person netto weniger hätte. Den gleichen Betrag müsste der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin zusätzlich in die Rentenkasse zahlen. Für 8,65 Euro kriegen Sie auf dem Oktoberfest nicht mal eine Maß Bier und in Köln eine überschaubare Anzahl von Kölsch. Ich habe noch keinen einzigen Menschen getroffen, der wegen eines solchen Betrags zwei Jahre länger arbeiten wollte. Hinzu kommt: Viele Beschäftigte mit Knochenjobs, die eine körperlich oder psychisch harte Arbeit haben, schaffen es schon heute nicht mal bis zum 60. Lebensjahr. Ich will hier nur drei Beispiele nennen: Das durchschnittliche Berufsaustrittsalter beträgt bei Bauberufen 57,6 Jahre, in der Kunststoffverarbeitung 58,7 Jahre und bei Hilfsarbeitern 59,1 Jahre.
Wagner: Aber genau das ist doch das Problem!
Birkwald: Ja, und was tun die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber? Sie fordern wie Sie eine spätere Rente, aber wenn man sie fragt, was sie für alterns- und altersgerechte Arbeitsplätze tun, dann gucken sie an die Decke. Und sie stellen so gut wie nie ältere Menschen ein. Wer 58 oder 60 Jahre alt ist, hat kaum eine Chance, aus der Arbeitslosigkeit rauszukommen.
Wagner: Deswegen müssen wir jetzt darüber reden, wie man das ändert. Hier sind nicht nur die Arbeitgeber gefordert, sondern auch Gewerkschaften. Sie könnten sich offensiv dafür einsetzen, dass auch Ältere anständig beschäftigt werden.
Aber Gewerkschaften und Beschäftigte kämpfen doch für bessere Arbeitsbedingungen, etwa in der Pflege. Es ist auch eine Machtfrage, was sie durchsetzen können.
Wagner:
Genau. Gerade in Bereichen wie der Industrie, wo die Gewerkschaften stark sind, könnten sie offensiver für anständige Bedingungen gerade für Ältere eintreten. Das würde auf andere Branchen ausstrahlen. Aber das geht nicht, wenn die Gewerkschaften kategorisch sagen: Eine längere Lebensarbeitszeit kommt für uns nicht in die Tüte.
Birkwald: Wenn die Gewerkschaften jetzt einem späteren Rentenbeginn zustimmen, dann werden sie sofort darauf festgenagelt. Deswegen geht es nur andersherum. Wir brauchen zuerst eine andere Arbeitskultur, in der Unternehmen viel mehr Ältere einstellen, in der sie altersgerechte Stellen bieten und alternsgerechte Arbeitsplätze mit Tätigkeiten, die Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen bis zum Rentenalter ausüben können. Wir brauchen Arbeitszeitverkürzung und eine bessere Prävention. Wenn irgendwann die meisten Beschäftigten auch in Branchen wie dem Baugewerbe und der Pflege bis 65 arbeiten können, dann können wir über alles reden - ich bin ja kein Dogmatiker. Aber das dauert bestimmt noch 20 Jahre. Im Übrigen - und das ist mir wichtig - gibt es schon heute Anreize, länger zu arbeiten. Wer ein Jahr über die Regelaltersgrenze hinaus berufstätig sein will und kann, erhält danach eine fast neun Prozent höhere Rente. Dieser Anreiz ist sinnvoll, das muss aber freiwillig bleiben. Ein Problem ist, dass viele Tarifverträge dies verbieten. Dort steht oft: Der Arbeitsvertrag endet mit Erreichen der Regelaltersgrenze. Das sollte aus den Tarifverträgen gestrichen werden. Denn oft sind sich Führungskräfte und ihre Beschäftigten einig, dass sie noch ein, zwei Jahre dranhängen wollen.
Wagner: Das ist interessant, dass wir uns hier fast einig sind. Sie sagen, eine neue Arbeitskultur durchzusetzen, die anständige Jobs für Ältere bietet, dauert 20 Jahre. Ich hoffe, es dauert nur zehn Jahre, wenn wir jetzt damit beginnen, diese neue Kultur einzufordern und einzuüben, anstatt nur - nicht Sie, aber andere - darauf hinzuweisen, dass es viele sowieso nicht bis zum Rentenalter schaffen.
Herr Birkwald fordert allerdings jetzt erst mal die Rückabwicklung der Rente ab 67 und sagt, dafür müssten die Beiträge nur um 0,5 Prozentpunkte steigen. Das klingt machbar.
Wagner:
Das wäre jetzt finanzierbar, aber perspektivisch würde alles noch schwieriger. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, deswegen werden die Beitragssätze ab 2025 deutlich steigen. Man kann darüber streiten, ob das tragbar ist. Zumindest die Mehrheit in der Politik und auch die meisten Ökonomen sind der Meinung, dass die Beiträge nicht ungebremst steigen sollten.
Birkwald: Wir brauchen höhere Beitragssätze. Wenn die Löhne entsprechend dem Wirtschaftswachstum und der Produktivität steigen, dann können auch die Beiträge steigen. Die Beschäftigten haben dann trotzdem netto mehr Geld.
Wagner: Das ist mir schon klar, nur kann ich mich damit nie am Stammtisch durchsetzen, wenn ich mit meinen alten Fußballfreunden rede.
Birkwald: Dann lade ich Sie mal zu einem meiner Vorträge ein.
Wagner: Nicht zum Vortrag, in eine Kölschkneipe möchte ich mit Ihnen gehen und mit normalen Leuten reden!
Birkwald: Abgemacht!
Eine stammtischtaugliche Aussage taucht dauernd auf: Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Alte zahlen. Das kann nicht gutgehen, deswegen muss wahlweise das Rentenalter erhöht oder die Renten gekürzt werden …
Birkwald:
… ja, genau, das ist ein Problem. Die Möglichkeit, die Beiträge zu erhöhen, wird in Talkshows gar nicht mehr diskutiert.
Na, wenn Sie dabei sind, bestimmt. Sie argumentieren: Dank des Wirtschaftswachstums können die Nettolöhne steigen und gleichzeitig alte Menschen anständige Renten erhalten. Das setzt voraus, dass die Gehälter tatsächlich entsprechend steigen und die Wohlstandszuwächse nicht vor allem bei einigen Reichen landen. Aber selbst dann hieße das: Weil es mehr alte Menschen gibt, muss ein wachsender Anteil des Bruttoinlandprodukts an diese Menschen fließen.
Birkwald:
Und das ist auch möglich. Faktisch geben wir in Deutschland weniger für alte Menschen aus als anderswo. Hierzulande sind es gut neun Prozent, in Italien sind es 13,8 Prozent, in Frankreich 12,9 und in Österreich zwölf Prozent. Anderen Ländern sind alte Menschen also mehr wert. Das ist eine politische Setzung. Ich bin dafür, dass alte Menschen mehr Geld erhalten und das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent angehoben wird. Das würde, grob gesagt, bedeuten: Beschäftigte mit Durchschnittsgehalt und 45 Jahren Erwerbstätigkeit erhalten als Rente 53 Prozent des jeweils aktuellen Durchschnittsgehalts vor Steuern anstatt 48 Prozent. Dafür brauchen wir moderat steigende Beiträge. In Österreich sind die Renten und die Beiträge höher als hierzulande, gleichzeitig ist das Land gesamtwirtschaftlich erfolgreicher: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist dort größer. Kaufkraftbereinigt.
Wagner: Ich behaupte ja nicht, dass höhere Beitragssätze zum Ruin des Wirtschaftsstandorts Deutschland führen würden. Klar, ich kann mir auch ein höheres Rentenniveau vorstellen. Das wäre für alle Rentner schön. Ich sehe aber nicht, dass es auch nur aus der Ferne erkennbar ist, dass es eine gesetzgeberische Mehrheit gibt für einen Beitragssatz von 25 Prozent.
Birkwald: 20,6 Prozent würden aktuell genügen!
Wagner: Im Laufe dieses Jahrzehnts würde das nicht mehr reichen. Die vom Arbeits- und Sozialministerium einberufene Rentenkommission hat dazu im Konsens von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern Modellrechnungen erstellt, aus denen sich Beitragssätze ergeben, die auch Gewerkschaften und die SPD für zu hoch gehalten haben. Und weil Sie Österreich erwähnt haben: Dort sind die Sozialabgaben insgesamt ungefähr so hoch wie bei uns, weil das Gesundheitssystem etwa zur Hälfte über Steuern finanziert wird. Aber das ist gefährlich.
Wieso?
Wagner:
Steuerfinanzierte Sozialleistungen kann die Politik mit einem Federstrich wieder kürzen. Wer Beiträge zahlt, erwirbt hingegen gesetzlich geschützte Ansprüche. Ein höherer Steuerzuschuss würde bedeuten, dass die Sozialleistungen noch unsicherer werden als ohnehin. Das gilt jedenfalls für Deutschland, wo alle paar Jahre die Debatte hochkocht, dass die Steuerbelastung den Wirtschaftsstandort Deutschland ruiniert.
Was brächte eine Erwerbstätigenversicherung wie in Österreich, in die auch Beamte einzahlen?
Birkwald:
Das wäre gerade jetzt auch in Deutschland sinnvoll. Angenommen, der Bundestag beschlösse, dass alle, die ab 2022 verbeamtet werden, in die gesetzliche Rentenkasse einzahlten. Diese Menschen würden in den nächsten 30, 40 Jahren keine Leistungen erhalten. Das ist genau der Zeitraum, in dem die Babyboomer Rente beziehen. Danach sinkt der Anteil der Rentner und Rentnerinnen wieder. So hat es Österreich gemacht. Der Fachbegriff dafür lautet demografische Untertunnelung.
Wagner: Die jungen Beamten müssten dann, anders als bisher, Rentenbeiträge abführen. Zusätzlich müssten sie in eine betriebliche Altersvorsorge zahlen, die es für Angestellte beim Staat bereits gibt. Sollen also die Nettogehälter der jungen Beamten sinken?
Birkwald: Nein! Die Grundbezüge müssen angehoben werden. Bundestagsabgeordnete sollten auch in die Rentenkasse zahlen, ihre Abgeordnetenentschädigung sollte aber nicht steigen.
Wagner: Aha! Die höheren Beamtenbezüge zahlen dann die Steuerpflichtigen. Ich bin gar nicht gegen eine Erwerbstätigenversicherung, aber sie ist nicht kostenlos zu haben.
In Österreich sind die Pensionsansprüche von Beamten teils stark gesunken, nachdem sie in die Rentenversicherung eingegliedert wurden.
Birkwald:
Dort gab es früher für manche Beamte Pensionen von 7000, 8000 Euro, und das waren keine Ministerinnen und Staatssekretäre. Da ist es sehr wohl vertretbar, wenn die Altersbezüge ein wenig abgesenkt werden. Außerdem würden sie in Deutschland zusätzlich Betriebsrenten erhalten.
Wie hoch die Rente sein kann, unterliegt jedenfalls nicht irgendwelchen Sachzwängen. Es ist eine politische Entscheidung, welcher Anteil am Wohlstand alten Menschen zugebilligt wird.
Wagner:
Das stimmt. Aber man braucht auch Mehrheiten.
Nun gibt es in allen Altersgruppen arme und reiche Menschen. Die Wohlhabenden haben nicht nur mehr Geld, sie leben auch länger. Das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW hat etwa Daten für westdeutsche Männer vorgelegt. Demnach leben Besserverdienende nach ihrem 65. Geburtstag im Schnitt noch 22 Jahre, Geringverdienende dagegen nur 15 Jahre. Böse formuliert kann man sagen: Es sind die Besserverdienenden, die den Beschäftigten besonders lange auf der Tasche liegen!
Birkwald:
So würde ich das nicht formulieren. Es gibt aber diese Ungerechtigkeit zwischen Oben und Unten. Das ist das entscheidende Problem, nicht der sogenannte Generationenkonflikt. Deswegen müssen wir für mehr Gerechtigkeit zwischen Oben und Unten sorgen. Im Moment haben wir ein sehr brutales Äquivalenzprinzip: Jeder Euro, den Beschäftigte in die Rentenkasse zahlen, führt zu gleich hohen Rentenansprüchen. Das klingt gerecht, ist es aber nicht, eben weil arme Menschen viel kürzer Rente beziehen. Wir wollen das ändern.
Wie?
Birkwald:
Wer nur wenig verdient hat, etwa wegen Teilzeit oder niedriger Stundenlöhne, soll höhere Rentenansprüche erhalten. Seine oder ihre Rentenpunkte sollen quasi aufgewertet werden. Zudem fordern wir eine Solidarische Mindestrente von 1200 Euro, die einkommens- und vermögensgeprüft ist. Niemand soll weniger als 1200 Euro netto im Monat haben. Bei den Besserverdienenden wollen wir die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise drastisch anheben, das heißt: Wer 14 000 Euro im Monat verdient, soll auf das gesamte Gehalt Beiträge zahlen. Gleichzeitig sollen deren Ansprüche abgeflacht werden, und zwar ab einer Rente von aktuell 3200 Euro.
Wagner: Bei Ihrer Mindestrente sind Sie ziemlich nah bei der CDU. Sie folgen damit der Logik der Sozialhilfe, die auch bedarfsgeprüft ist.
Birkwald: Nein. Die Linke will die gesetzliche Rente stärken, durch ein höheres Rentenniveau und eine bessere Absicherung bei niedrigem Lebenseinkommen. Wenn dann trotzdem noch jemand weniger als 1200 Euro netto hätte, griffe die Solidarische Mindestrente. Dafür braucht man Einkommens- und Vermögensprüfungen. Können Sie sich vorstellen was die Bild-Zeitung machte, wenn sie jemanden fände, der die Solidarische Mindestrente erhielte, obwohl er eine halbe Millionen Euro von seinen Eltern geerbt hat?
Wagner: Also ich finde es wichtig, aus der Sozialhilfelogik rauszukommen und zu schauen, wie dafür eine politische Mehrheit zu finden ist. Deswegen würde ich an der Grundrente ansetzen. Die ist im Moment einkommensgeprüft, man kann sie auch vorbehaltlos gewähren und erst anschließend versteuern. Wer sonstige Einkommen hat, zahlt also höhere Steuern. Damit würde man Leuten, die lange berufstätig waren oder sich um Kinder oder Angehörige gekümmert haben, wirklich Respekt erweisen. Andere Länder sind diesen Weg bereits gegangen: Niedrige Rentenanwartschaften werden dort höher bewertet. Was mindestens genauso wichtig ist: Gesundheitlich Angeschlagene sollten auf anständige Art und Weise vor der Altersgrenze eine ordentliche Erwerbsminderungs-Rente bekommen, ohne durch einen extrem mühsamen Antragsprozess gehen zu müssen.
Und was ist mit den länger lebenden Besserverdienenden?
Wagner:
Es gibt beispielsweise einen relativ eleganten Weg, die längere Lebenserwartung von Bessergestellten zu berücksichtigen: Ab dem Zeitpunkt, an dem die Menschen in Ruhestand gehen, steigen die Renten nur noch entsprechend der Inflation. Preisbereinigt bleiben die Renten, die zum Beginn etwas höher sein könnten als es nach der jetzigen Rentenformel der Fall ist, damit während des ganzen Ruhestands real gleich, es gibt keinen Kaufkraftverlust. Sie steigen aber nicht mehr so stark wie bisher, weil sie sich nicht mehr an der Lohnentwicklung orientieren. Das macht sich erst nach 15 Jahren so richtig bemerkbar - und das betrifft dann vor allem Wohlhabendere, die länger leben.
Und dass arme Menschen früher sterben, das nehmen Sie hin?
Wagner:
Nein! Aber die sozialen Differenzen in der Lebenserwartung zu verringern, ist offensichtlich nicht so einfach. 150 Jahre Arbeiterbewegung in Deutschland haben jedenfalls nicht dazu geführt, dass die sozialen Unterschiede verschwunden wären, übrigens auch nicht in der DDR.
Birkwald: Ein Mittel ist natürlich, die Armut zu verringern. Das fordert Die Linke. Was dafür bislang fehlt, ist eine politische Mehrheit.
In Ostdeutschland besteht der Großteil der Altersbezüge aus der gesetzlichen Rente. Dort haben viel weniger Menschen als im Westen eine private Altersvorsorge, eine betriebliche Rente oder Vermögenseinkommen. Wie sollte die Politik damit umgehen?
Birkwald:
Tatsächlich sind die gesetzlichen Renten in Ostdeutschland im Durchschnitt höher als im Westen, bei Männern und Frauen. Das liegt vor allem daran, dass es in der DDR keine Arbeitslosigkeit gab und Frauen in der Regel Vollzeit beschäftigt waren. Die gesamten Einkünfte sind aber niedriger, aus den von Ihnen genannten Gründen. Das monatliche Nettoeinkommen von alleinstehenden Männern über 65 Jahre lag 2019 im Osten im Schnitt bei 1563 Euro, im Westen bei 1875 Euro. Bei Frauen waren es im Osten 1567 Euro und im Westen 1617 Euro.
Und deshalb plädieren Sie für eine Sonderregelung Ost, Herr Birkwald?
Birkwald:
Ich nenne es Solidarität mit Ostdeutschland. Dort sind die Löhne im Schnitt immer noch rund 18 Prozent niedriger als im Westen. Deswegen brauchen wir weiterhin die sogenannte Umrechnung bei der Rente. Sie führt dazu, dass Menschen in ganz Deutschland für die gleiche Arbeitsleitung die gleiche Rente erhalten, obwohl die Gehälter im Osten niedriger sind. Bisher ist gesetzlich festgelegt, diese Umrechnung im Jahr 2025 ganz abzuschaffen. Das dürfen wir nicht tun, so lange es das West-Ost-Lohngefälle gibt.
Wenn diese Umrechnung beibehalten wird, bekommen Beschäftigte in Ostdeutschland für das gleiche Gehalt eine höhere Rente als im Westen. Jetzt sagen Sie: Das ist fair, weil das Lohnniveau dort niedriger ist. Mit dem gleichen Argument kann man sagen: Frauen verdienen im Schnitt 18 Prozent pro Arbeitsstunde weniger als Männer. Deshalb müssen ihre Renten auch aufgewertet werden.
Birkwald:
Bei Frauen haben wir ein anderes Problem, weil es hier um unterschiedliche Berufe geht. In Ostdeutschland können Sie dagegen klar festmachen, dass in bestimmten Branchen die Löhne niedriger sind als im Westen. Wenn ein Maurer in Frankfurt am Main mit 17 Jahren anfängt und ein Maurer in Frankfurt / Oder ebenfalls und beide gehen gleichzeitig in Rente, dann erhält der Ostdeutsche weniger als der Westdeutsche. Das ist nicht in Ordnung.
Aber ist es in Ordnung, dass eine Altenpflegerin viel weniger verdient als ein Banker? Wäre es nicht besser, wenn alle Geringverdienenden in Ost und West, Männer und Frauen, eine anständige Rente bekommen?
Birkwald:
Wenn die Altersbezüge für Menschen mit niedrigen Einkommen aufgewertet würden und das Rentenniveau insgesamt stiege, dann müssten wir nicht weiter ständig darauf pochen, dass die Umrechnung beibehalten wird. Herr Wagner hat mehrfach erwähnt, dass man auf die politische Durchsetzbarkeit achten muss. Deshalb ist es sinnvoll, dass man für Probleme zwei Lösungsvorschläge hat, damit man mindestens einen durchsetzen kann.
Wagner: Inzwischen gehen diejenigen in Ostdeutschland in den Ruhestand, die als Langzeitarbeitslose zu den ökonomischen Verlierern der Vereinigung gehören. Sie bekommen entsprechend dem Äquivalenzprinzip nur niedrige Renten. Ob es deswegen gerecht ist, die Renten in Ostdeutschland generell aufzuwerten, lässt sich nicht so einfach sagen. Man kann darüber nur so offen wie möglich diskutieren und dann entscheidet die politische Mehrheit. Für alte Menschen in Ost und West ist aber noch ein ganz anderer Punkt wichtig.
Nämlich?
Wagner:
Es ist ein Unding, dass schwer Pflegebedürftige nicht 100 Prozent der Pflegekosten erstattet bekommen. Beim weniger Pflegebedürftigen kann man durchaus sagen: Es besteht die Gefahr, dass einige simulieren und so tun, als könnten sie die Hände nicht mehr über den Kopf heben, wenn sie begutachtet werden, um das Pflegegeld bekommen. Deswegen zahlt man allen nur einen Zuschuss. Bei schwerer Pflegebedürftigkeit kann man aber nicht mogeln. Darum sollte hier die Versicherung die Kosten voll erstatten.
Das bedeutet höhere Beiträge.
Wagner:
Ja, klar. Und auch deswegen muss man den Beitragssatz der Rentenversicherung im Blick behalten.
Birkwald: Wir brauchen eine Pflegevollversicherung. Wir fordern, dass dafür alle Menschen mit allen Einkommen herangezogen werden, also beispielsweise auch auf Mieteinnahmen Beiträge entrichtet werden.
Sie haben jetzt beide viele Ideen genannt für eine aus Ihrer Sicht bessere Rentenpolitik. Wenn Sie bestimmen könnten, was zuerst geändert wird: Wofür würden Sie sich entscheiden?
Wagner:
Ich würde nicht die Renten-, sondern die Pflegeversicherung sofort verbessern. Bei der Rente ist das Dringendste, dass wir darüber reden, wie man die Erwerbstätigkeit im Alter auf menschlich anständige Art und Weise erhöhen kann. Bei der Rentenmechanik ist meines Erachtens das wichtigste, die Grundrente zu verbessern.
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