Hoffnung in der schrumpfenden Stadt

Linke-Wahlkampf Im einstigen Schuh-Mekka Pirmasens tritt Frank Eschrich als Direktkandidat zur Bundestagswahl an

  • Rudolf Stumberger, Pirmasens
  • Lesedauer: 7 Min.

»Verlässt der Schuh die städtisch’ Grenz, soll Lob er sein für Pirmasens.« In Sandstein gemeißelt steht dieser Satz am Schusterbrunnen in der Fußgängerzone. In den 1960er Jahren gingen jeden Tag Zehntausende Schuhe von hier aus in die Welt, die Stadt im Süden von Rheinland-Pfalz, nahe der französischen Grenze, galt als das Schuh-Mekka schlechthin. Doch das ist lange her. Heute sind von ehemals fast 60 000 Einwohnern noch rund 40 000 geblieben. Viele Läden und Wohnungen in der Stadt stehen leer. Erst kürzlich hat mit Peter Kaiser eine der letzten verbliebenen Schuhfabriken dichtgemacht. Pirmasens ist die Stadt mit der höchsten Verschuldung in ganz Deutschland. Und hier, im Armenhaus der Republik, macht Frank Eschrich Wahlkampf für die Linkspartei zur Bundestagswahl. »Wenn wir sieben Prozent holen, sind wir zufrieden«, sagt der 57-Jährige.

Wer durch die Stadt geht, kann die Spuren der Vergangenheit sehen, als Städte noch autogerecht gebaut wurden. Vor dem Rathaus ist die gute Stube der Stadt, der Exerzierplatz, als Parkhaus mehrere Etagen tief unterkellert. Auch über den Innenstadtring haben sie in den 70er Jahren einen mächtigen Betonriegel gelegt. Dort parken ebenfalls Autos, und oben drauf wurden noch Wohnungen gesetzt.

In der Fußgängerzone kleben an den Scheiben von leer stehenden Läden Zettel mit der Aufschrift »zu vermieten«. Doch das ist jetzt keine Besonderheit von Pirmasens. In vielen deutschen Innenstädten verschwindet der Einzelhandel, und es macht sich Leerstand breit. Was auffällt, sind die vielen geschlossenen Kneipen. »Post bitte beim Hauseingang Tür links einwerfen. Danke«, steht an der Eingangstür des »Bierbrunnen« an der Ecke Gerbergasse/Föhnstraße. Auf der von der Sonne verschrumpelten Speisekarte kann man noch lesen, dass das 0,3-Liter-Pils vom Fass 2,20 Euro kostete. Beim »Tanzcafé Hofer« in der Kreuzgasse sind die Rollläden herunter, auch der »Chianti-Keller« an der Ecke Sonnen-/Goethestraße ist dicht. Sind das nun alles Folgeerscheinungen von der Corona-Pandemie?

»Nein«, sagt Frank Eschrich. »Das Kneipensterben gab es schon vorher.« Die Linkspartei trifft sich in der »grünen Laterne«. Die hat noch auf. Mit 150 Mitgliedern ist der 1998 gegründete Kreisverband der Partei der zweitgrößte in Rheinland-Pfalz. Seit 2009 hat die Linke zwei Sitze im Stadtrat. Einen füllt Frank Eschrich aus. Jetzt zur Bundestagswahl tritt er als Direktkandidat im Wahlkreis an. Sein Vater hat als Zivilist bei der US-Armee gearbeitet, er selbst nach dem Abitur in einem Autohaus, bis er 2005 Wahlkreismitarbeiter des Linke-Bundestagsabgeordneten Alexander Ulrich wurde. Eschrich, ein Mann von kräftiger Statur, wohnt mit seiner Lebensgefährtin im Vorort Windsberg. Seine Partnerin, Brigitte Freihold, ist 2017 auf Listenplatz drei der Linken in Rheinland-Pfalz in den Bundestag eingezogen.

Eschrich ist so etwas wie das politische Urgestein der Linken in der Stadt. Er hat in Pirmasens die Linkspartei mitbegründet und sieht sich in der Tradition der Arbeiterpartei. »Wir wollen eine Gesellschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, eine Gesellschaft des Miteinanders, in der ein würdiges Leben aller ermöglicht wird«, heißt es auf der Website des Kreisverbandes.

Eine Unterstützung von Bedürftigen findet jeden Dienstag und Donnerstag ab 14.30 Uhr an der Werner-Egk-Straße 3 statt. Dort ist die Essensausgabe der Tafel. Auch heute hat sich vor dem Lkw mit den Lebensmitteln eine ziemlich lange Schlange gebildet: Jüngere und Ältere, Frauen mit Kindern, Männer mit Plastiktüten. 1500 Menschen holen sich hier jede Woche Brot und Gemüse, Obst und Milchprodukte ab - wie mittlerweile in fast jeder deutschen Stadt. Weil der Verteilort am Stadtrand bei einem Kirchenzentrum liegt, kommen die bedürftigen Menschen auch mit dem Bus.

»Heute waren gar keine Bananen dabei«, klagt eine ältere Frau an der Haltestelle. Die Tafel ist als Verein organisiert, doch der Vorsitzende will kein Interview geben. Möglicherweise hat er früher schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht. Pirmasens galt bisher als Stadt des Niedergangs, und so manche Journalisten haben ein ziemlich düsteres Bild gezeichnet: »Das Grau des Verfalls wird nur durch die Spielhöllen unterbrochen, die sich wie bunt blinkende Krebsgeschwüre ins Stadtbild gefressen haben«, schrieb einer vor drei Jahren.

Dieser Niedergang dauert nun schon mehr als drei Jahrzehnte an. Nach dem Krieg konnte man in den Fabriken der Schuhindustrie gutes Geld verdienen. Die Produktion ist eine komplizierte Angelegenheit und Stepperinnen, die geschickt mit der Nähmaschine umgehen konnten, waren gesucht. In fast jeder zweiten Straße gab es eine Schuhfabrik. Zusätzliche Arbeitsplätze boten die amerikanischen Streitkräfte in der Region. Auf der Husterhöhe lebten zeitweise 10 000 amerikanische Soldaten mit ihren Familien. Dann kam in den 80er Jahren der wirtschaftliche Umbruch. Die Produktion wurde in Billiglohnländer verlagert, und reihenweise schlossen die Stahlhütten, die Schuhfabriken oder Porzellanwerke ihre Tore. Was folgte, waren Jahre der »tiefen Depression«, wie es Bürgermeister Michael Maas von der CDU ausdrückt. Von der wirtschaftlichen Monokultur der Schuhindustrie waren vor allem leere Fabrikgebäude geblieben. Hinzu kam in Pirmasens 1997 der Abzug der US-Armee. 15 000 Arbeitsplätze waren so verloren gegangen. Die Menschen zogen fort. Heute stehen in der Stadt 4000 bis 5000 Wohnungen leer. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp über elf Prozent und ist damit fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Die Stadt hat eine enorm hohe Verschuldung von 395 Millionen Euro. Die Infrastruktur rottet vor sich hin. Schulen, Straßen und Abwasserkanäle gehören dringend saniert.

Diese Verhältnisse wirken sich auch auf die Politik aus. »Die Wahlbeteiligung sinkt«, sagt Bürgermeister Maas. In manchen Stadtteilen liegt sie nur noch bei 30 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2017 gingen 60,5 Prozent der Wähler zur Urne, bei der Oberbürgermeisterwahl 2018 waren es lediglich 39 Prozent. Als Grund sieht Maas eine Politikverdrossenheit der Menschen, denn für die bezahlten Steuern könne die Kommune keine Gegenleistung liefern.

»Die Wahlbeteiligung war schon immer gering«, erinnert sich hingegen der gebürtige Pirmasenser Frank Eschrich. 24 Prozent der Bevölkerung leben am Existenzminimum, viele seien auf Hartz IV angewiesen. »Die Leute sind von allen Parteien frustriert.« Dabei nimmt er die Linke nicht aus: »Viele sind auch von uns enttäuscht.« Eschrich versteht sich als einer, der sich kümmert, erwartet das auch von seiner Partei. Zur innerparteilichen Debatte um Sahra Wagenknecht sagt er: »Ich stehe voll und ganz hinter ihr«, auch wenn sie manchmal etwas »steile Thesen« verbreite. »Salonlinke« seien jedenfalls nicht sein Ding. »Zentrales Thema ist für mich die soziale Gerechtigkeit«, sagt er. Einen Wandel der Partei weg von diesem Thema werde er nicht mitmachen.

Derzeit gibt es auch regionale Streitthemen wie um den vierspurigen Ausbau der Bundesstraße. Eschrich ist aus Naturschutzgründen dagegen. Und die Debatte um Windräder im Pfälzer Wald wird mitunter heftig geführt. Die CDU habe das Thema unter dem Motto »Verspargelung des Pfälzer Waldes« aufgebauscht. Um das Finanzproblem der Stadt zu lösen, schlägt Eschrich einen Schuldenschnitt und eine Regulierung der Baupreise vor: »Wir werden die Mondpreise der Bauwirtschaft nicht mehr mittragen.« Künftig will er jede Erhöhung der Kosten bei öffentlichen Bauprojekten rigoros ablehnen. Ob diese Themen aber im Bundestagswahlkampf zum Tragen kommen, ist ungewiss. Überhaupt sei noch keine Wahl so unklar gewesen, was den Ausgang betreffe, sagt er. Mittlerweile läuft die heiße Phase an: 200 Straßenplakate müssen aufgestellt werden. Der DGB macht ein Grillfest mit Abstand. Immerhin sind wieder Parteiveranstaltungen mit 50 Leuten erlaubt.

Pirmasens befindet sich zwar derzeit im Umbruch, aber nicht alles ist düster. In dem riesigen Gebäude der ehemaligen Schuhfabrik Rheinberger ist jetzt das »Dynamikum« untergebracht, das erste »Science-Center« in Rheinland-Pfalz. Im Strecktalpark kann man sich in aufgestellten Strandkörben erholen, Strand gibt es freilich keinen. Auf der Husterhöhe sind in den Gebäuden der ehemaligen US-Kaserne Firmen eingezogen. Insgesamt haben sich knapp 100 Betriebe angesiedelt, sagt das städtische Referat für Wirtschaftsförderung. Auch die Schuhindustrie spielt noch eine Rolle: Die Solor-Gruppe, ein Spezialist für Orthopädieschuhtechnik, sitzt in Pirmasens, und beim »Schuhkompetenz-Center« werden neue Techniken erprobt - zum Beispiel Schuhe mit Sensoren für Diabetiker. Auch kleinere Firmen produzieren wieder Schuhe in Kleinserien für Auftraggeber.

»Im Vergleich zu früher ist schon viel passiert«, meint auch Manfred Vogel, Sozialpädagoge am Sozialzentrum »Mittendrin« in der Fußgängerzone. Die Stadt befindet sich im Wandel, das ist unübersehbar. Und der schafft ganz andere Bedingungen. Die einfachen Arbeitsplätze in der Produktion seien für immer weg, sagt Vogel. Jetzt würden Fachkräfte gesucht. »In Pirmasens kann man sehr gut die Zweidrittel-Gesellschaft sehen.« Ein Drittel der Menschen in der Stadt sei abgehängt, und ob dieses Drittel überhaupt noch zur Wahl geht und etwa bei Frank Eschrich das Kreuz macht, ist unklar. Auch im »Mittendrin« gibt es einen kostenlosen Mittagstisch. Heute auf dem Speiseplan: Schinkennudeln.

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