Geschäft bleibt Geschäft

Notizen aus Venedig (2): »Qualifizierter Tourismus« mit neuen Privatstränden und Wachleuten¶

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

twas fehlt im Bild. Lange Zeit waren sie täglich, nein stündlich, manchmal sogar viertelstündlich ein Ärgernis, aber eben auch für einige ein Riesengeschäft. Ab 1. August sind die großen Kreuzfahrtschiffe aus der Lagune verschwunden. Ein Regierungsbeschluss aus Rom hat die drohende Aberkennung des Weltkulturerbetitels von Venedig verhindert.

Böse Zungen behaupten zwar, das Verbot im Abstand von 30 Metern am Markusplatz vorbei zu fahren, sei eine Mogelpackung. Denn weiterhin starten und enden Kreuzfahrten im Hafen von Venedig. Nur fahren sie jetzt eine andere Route. Aber das ist doch schon mal was! Vielleicht hätte Dresden die Waldschlösschenbrücke auch einige Kilometer weiter elbabwärts bauen sollen, dann wäre das Elbtal noch Weltkulturerbe. In der Lagune rasen nun jedoch enthemmt kleine Motorboote kreuz und quer den Vaporettos knapp am Bug vorbei. Die kommen aus dem Hupen gar nicht mehr raus.

Womit wir wieder bei der Frage der letzten Kolumne sind: Hat die Corona-Pause die Venezianer demütiger gemacht? Bündige Antwort: ganz und gar nicht, eher im Gegenteil. Man will offenbar blitzschnell alles Verlorene kompensieren. Auf dem Markusplatz laufen Ordner mit T-Shirts »Respect Venezia« herum und treiben, in Ermangelung ernsterer Ordnungsverstöße, Touristen von den Steinstufen auf. Hinsetzen verboten! An der Vaporetto-Anlegestelle auf dem Lido steht abends Wachschutz mit Pistole am Gürtel. Was kontrolliert er? Ob auch alle, die den Vaporetto besteigen, eine Maske tragen. Welch Ironie: Die Stadt der kunstvollen Karnevalsmasken, uniformiert im FFP2- Format!

Am Strand, wo ich gegen Abend eintreffe, werde ich von drei Türstehertypen umstellt, die mir höflich, aber auch ohne jeden Kompromissvorschlag, mitteilen, der Strand hier sei privat, ich solle gefälligst anderswo hingehen mit meinem Badetuch. Keine Antwort auf meine Frage, seit wann das denn so sei. Schließlich sitze ich hier sommers seit vielen Jahren, vom letzten Jahr einmal abgesehen. Was passiert, wenn man eine Wächterkaste überproportional aufbaut, darüber kann man in Platons »Der Staat« nachlesen. Nichts Gutes für den freien Bürger jedenfalls. Und Italien macht gerade wieder, was es in Krisen immer macht: Es produziert im Übermaß an Anordnungen und Verboten ein Chaos an Bürokratie, die alles lähmt.

Der neue Slogan der Venedig-Vermarktung lautet: »qualifizierter Tourismus«. Das bedeutet weniger, aber dafür reichere Touristen. Bloß keine Tagesbesucher, die sich ihr Essen selbst mitbringen und die Gassen mit den teuren Boutiquen verstopfen, in denen sie sowieso nichts kaufen. Ich jedenfalls lasse hier gerade mein gespartes Venedig-Geld von diesem Jahr und vom letzten Jahr noch dazu. Wenig ist das nicht, aber das reicht offenbar den Machern eines »qualifizierten Tourismus« längst noch nicht.

Gehört Venedig eigentlich wieder zu Österreich? So viel Deutsch wurde hier wohl seit Langem nicht mehr gesprochen. Das liegt daran, dass es derzeit keine Amerikaner und Chinesen in Venedig gibt. Das alte Kerneuropa ist, mitsamt einigen arabischen Großfamilien, die die Kaufkraft repräsentieren, wieder unter sich. Ist das angenehm? Weiß ich nicht so recht, quengelnde Kinder sind schon schlimm genug, doch bei massenhaft auf Deutsch quengelnden Kindern kann ich auch gleich in Berlin bleiben. Aber Kinder aufmerksamer deutscher Eltern haben es auch besonders schwer: »Pauline, nicht mit dem Gesicht ins Wasser!«, ruft ein besorgter Vater seiner Tochter beim Baden auf dem Lido zu. »Wieso denn nicht?«, schallt es zurück. Gute Frage, denke ich und tauche meinen Kopf ins Meer.

Seltsam, dass eine Stadt, die ins Wasser gebaut wurde, soviel Angst vor dem Feuer hat. Phönix ist – neben dem Löwen – eines ihrer Wappentiere. Der Vogel, der aus der Asche des Feuers steigt! Vor Jahren begann man die Stadt mit Hydranten zu versehen. Jetzt leuchtet es rot an jeder Ecke. Auf dem Bahnhof Santa Lucia stehen auf allen Bahnsteigen im Abstand von zehn Metern riesige Feuerlöscher auf Sackkarren. Das soll wohl eine Art schnelle Eingreiftruppe im Stil des 19. Jahrhunderts sein. Im Appartementhaus auf Murano, wo ich einige Tage wohne, drapieren Feuerlöscher die Treppenabsätze so wie früher kunstvolle Bodenvasen. Und im Teatro La Fenice hört man zeitweise kaum etwas von dem, was auf der Bühne gespielt wird, weil ganze Trupps von hauseigenen Feuerwehrleuten mit Nagelstiefeln die Treppen hoch und runter patrouillieren.

Aktionismus aber hilft bekanntlich nichts. Das nach Phönix benannte Opernhaus »La Fenice« wurde 1792 für seinen abgebrannten Vorgänger »Teatro San Benedetto« gebaut, brannte erstmals 1836 und zuletzt 1996, ab. Zuletzt war es die Brandstiftung eines Elektroingenieurs, der eine Konventionalstrafe von 7000 Euro umgehen wollte. Was sagt uns das? Vorsicht ist etwas anderes als Hysterie. Letztere reproduziert bloß Schäden, statt sie zu verhindern.

Im Hotel neben dem Opernhaus mit dem klangvollen Namen »La Fenice et Des Artistes«, wo die signierten Bilder von Luciano Pavarotti und Marcello Mastroianni an der Wand hängen (dass die hier jemals wohnten, bezweifle ich, aber die Werbung funktioniert), habe ich ein Zimmer für drei Nächte reserviert. Der aktuelle Listenpreis pro Nacht von 2021 beträgt bis zu 500 Euro (ohne Frühstück) – das zum Thema Demut in Venedig. Ein Internetreiseanbieter überlässt es mir freundlicherweise zum Schnäppchenpreis von einem Drittel des Preises. Jedoch einen Tag, bevor ich anreise, schickt mir das Hotel eine Mail: Wegen eines plötzlichen Wasserschadens könne man mir das avisierte Zimmer mit Terrasse nicht geben, dafür ein anderes ebenfalls sehr komfortables ohne Terrasse. Außerdem biete man mir für den Wechsel 20 Prozent Rabatt an.

Man macht immer wieder Fehler im Leben. Aber einen darf man nie machen: Wenn einem ein Hotel, zumal in Venedig, von sich aus die Stornierung anbietet, sollte man dem folgen. Aber ich denke, egal, man muss nicht zu anspruchsvoll sein. Nun also drückt mir die Rezeptionistin mit resignierter Miene einen Schlüssel in die Hand: Das sei das letzte freie Zimmer, sagt sie, jedem weiteren Wechselwunsch zuvorkommend.

Das ist es dann tatsächlich: Nummer 257, ein dunkler Schlauch mit einem handtuchbreiten Fenster und einem Bad, zu dem man eine Reihe Stufen wie in einen dunklen Keller herabsteigt. Feuer, Wasser und Seuchen haben die Venezianer in einem nie erschüttert: im Geschäftemachen.

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