- Politik
- Flucht aus Afghanistan
Keine Träume mehr
Nach dem Abzug der Nato-Alliierten sind Zehntausende Afghanen auf der Flucht
Es waren die wohl ehrlichsten Worte, die man seit langem aus dem US-Außenministerium vernommen hat: »Wir sind gekommen, um Osama bin Laden auszuschalten. Das haben wir geschafft.« Wenn Mansur in den vergangenen Tagen durch die Straßen Kabuls gelaufen ist, hat auch er begonnen zu verstehen, dass all seine Hoffnungen, seine Träume und Wünsche auf einer falschen Vorstellung aufgebaut haben. Laut ihm war es die Vorstellung, dass fremde Länder und ihre Armeen helfen wollten, dass das Schicksal der Menschen nicht völlig egal wäre, dass Freiheit durch Demokratie das Ziel sei. Kaum fünf Jahre ist es her, da sah das noch anders aus.
»Sprichst du Deutsch? Ich bin Kommunist.« So habe ich ihn kennengelernt. Mit seinen Schwestern lief er den Berg in der Innenstadt von Kabul hoch, gemeinsam haben sie bereits vor lauter Vorfreude getanzt. Oben angekommen, haben wir uns alle von den berauschenden Tönen der afghanischen Sängerin Ariana Said in die Nacht begleiten lassen. Jubel, Tanz, Sorglosigkeit, zumindest für ein paar Stunden. Dann bin ich wieder gegangen. Mansur ist geblieben, freiwillig. Afghanistan wird wachsen, wird erstarken, und irgendwann wird es auch hier absolut lebenswert sein, davon war er überzeugt. Die Afghanen hatten bislang nur etwas mehr Pech als andere, sagte er zu mir. Heute sprechen wir ganz anders am Telefon. Die Freiheit von damals wirkt wie Zufall, ein Nebenprodukt. Das Ziel der Nato hingegen ist rückblickend glasklar: Sie waren gekommen, um zu töten, nicht, um Mansur zu helfen.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Neben Musik ist Mansurs große Leidenschaft die Politik. Er liest Werke von Marx und Zizek, aber auch gerne die Bestseller-Comicbuchreihe »Der Araber von morgen« des syrisch-französischen Autors Riad Sattouf. Dieser erzählt mit viel schwarzem Humor von seiner Kindheit in Frankreich, Syrien und in Libyen unter Ex-Präsident Muammar Al-Ghaddafi. Von seinem Vater, der nie über seine Probleme reden konnte und auf einmal nicht mehr da war. Von seinen Cousins, die ihn wegen seiner blonden Haare terrorisieren. Von der Einsamkeit seiner Mutter, gefangen irgendwo zwischen Ghaddafis Vorstellung eines panafrikanischen Sozialismus, der Sturkopfigkeit ihres Mannes und der Wüste. Dass seine Bücher von einem jungen Afghanen gelesen werden, hat sogar er mitbekommen und ein Bild von Mansur auf seiner Instagramseite gepostet. Das war im Februar 2018. Die Bücher habe ich Mansur über all die Jahre mitgebracht. Wenn ich nicht selber nach Kabul geflogen bin, habe ich sie jemandem mitgegeben. In diesen Tagen kann man keine Bücher in den sonst bis unter die Decke gestopften Läden kaufen. »Keiner weiß, ob man in Zukunft Bücher kaufen kann«, sagt Mansur am Telefon, »keiner traut sich, seinen Laden zu öffnen. Teile der Stadt wirken wie festgefroren.«
Am 26. August erreicht mich um 1:37 Uhr morgens eine Sprachnachricht. »Ich bin am Flughafen, ich versuche es. Vielleicht kriege ich ein Flugzeug nach Katar oder sogar Deutschland.« Dann höre ich zwei Tage nichts von ihm. Ob er unter den 170 Toten ist, die beim Angriff der Terrorgruppe Islamischer Staat am gleichen Tag gestorben sind? Dann die Erleichterung: »Ich bin in Doha, sie werden uns hoffentlich in die USA bringen«, schreibt er. »Wir haben es überlebt, aber wir mussten VIEL Leiden.« Der Mann seiner Schwester hat mit der US-amerikanische Antidrogenbehörde DEA zusammengearbeitet. Er hat ihn und seine Schwester in den Flughafen lotsen können. Laut »New York Times« wurden bislang circa 117 000 Menschen durch die USA evakuiert. Am 31. August endet die von der Taliban gewährte Deadline zum Abzug. Die Bundeswehr hat ihren Evakuierungseinsatz bereits beendet. Laut Welt am Sonntag hat die Bundeswehr rund 4500 evakuiert. Darunter sollen sich nur rund 100 Ortskräfte und ihre Familien befinden.
Der Übersetzer
Seit 2001 waren die Nato-Streitkräfte in Afghanistan. Drei Billionen US-Dollar hat alleine der Einsatz der US-Amerikaner gekostet – 300 Millionen am Tag. In dem 38-Millionen-Einwohner Land sind über 140 000 Menschen im direkten Zusammenhang mit dem Krieg gestorben: in Gefechten, durch Todeskommandos und Luftangriffe der Nato, aber auch Autobomben der Taliban. Aufgrund des Krieges zählt Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt. Während laut dem afghanischen Wirtschaftsministerium 2020 bereits 90 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze lebten, wurde zusätzlich die Drogenproduktion extrem angekurbelt. Mittlerweile ist Afghanistan der größte Exporteur von Heroin, laut einer UN Studie waren bereits 2010 mindestens acht Prozent der Gesamtbevölkerung abhängig – wie viele es heute sind, weiß man nicht. Wie genau die Taliban-Herrschaft jetzt nach ihrer rasanten Übernahme aussehen wird, ist unklar. Ihre Kämpfer patrouillieren im ganzen Land auf den Straßen. Der Präsident Aschraf Ghani ist geflohen, sein Bruder hat vergangene Woche öffentlich seine Unterstützung für die neuen Herrscher bekundet. Taliban-Sprecher Abdul Qahar Balchi sagte in einem Interview mit dem TV-Sender Al-Jazeera: »Wir wollen ein inklusives System, in dem auch Frauen wie Männer und Kinder Rechte haben. Gerade sind wir in Verhandlungen, danach wird sich rausstellen, wie genau die Rechte von Männern und Frauen aussehen werden.«
All das ist Hamza egal. »Man kann diesen Menschen nicht vertrauen«, sagt er. Er hat acht Jahre für die australische Regierung als Übersetzer gearbeitet. Getroffen habe ich ihn aber immer nur nachts, meistens mit einer Flasche Whiskey in der Hand, den er mit seinem pink-metallic Mercedes der G-Klasse vorbeigebracht hat. Hamza kommt aus Pandschschir, dem Tal der »Fünf Löwen«. Es ist heute der einzige Ort, der nicht unter Taliban-Kontrolle ist. Genauer gesagt kommt er aus dem Geburtstort des afghanischen Volkshelden Ahmed Schah Massud, einst ein berüchtigter Gegner der Taliban, der 2001 von Al-Qaida-Mitgliedern ermordet wurde.
Zusammen sind wir vor ein paar Jahren durch die engen Gassen des berüchtigten Dorfs geschlendert, haben Weintrauben gegessen und im reißenden Schmelzwasserfluss gebadet. Alles mit einem Tee. »Die Party ist vorbei«, sagt er mir am Samstag am Telefon. Die australische Regierung hat ihn nach Dubai ausgeflogen. Von dort soll es am 1. September nach Sydney gehen. Sein Vater ist derweil in Pandschschir am Widerstand gegen die Islamisten beteiligt.
Die Journalistin
Während ich mit Mansur über Politik diskutieren und mit Hamza mich in die Kabuler Nächte stürzen konnte, war der Erfolg meiner journalistischen Recherche wohl komplett von Uranus abhängig. Die 27-jährige Journalistin und Filmemacherin ist die wohl furchtloseste Person, die ich kenne. Eines Morgens wurden wir von einem fürchterlichen Erdbeben geweckt. Das Haus wackelte, wir sind in den Garten gerannt. An demselben Tag haben die Taliban über zehn Selbstmordanschläge in der Stadt verübt. Einmal waren wir nur drei Minuten vorher am selben Ort: Die Schreie der Verletzten, der Rauch, die Sirenen waren noch durch die Heckscheibe sichtbar. Zusammen sind wir in Kabuls Abwasserkanälen gewesen, auf Friedhöfen in den wohl gruseligsten Teilen der Stadt. Gesprochen haben wir mit Heroinsüchtigen, die unter Brücken und auf Friedhöfen leben. Im Dreck. Krank. Teilweise tot. Wir saßen dort, neben dem Abwasser. Frauen haben Heroin auf Alufolie geraucht. Völlig dicht hat eine mit ihrem neuen Freund vor uns diskutiert, wer ihren Mann erschlagen hat. Beide haben sich die Schuld in die Schuhe geschoben. Ohne Uranus hätte ich nicht arbeiten können. Ihr Name ist den Taliban bekannt, sie hat am 20. August das erste Mal versucht, zum Flughafen zu kommen. Die Menschen dort wurden überrannt, manche wurden erschossen. Beim zweiten Mal hat sie es dann geschafft. Auf Instagram postet sie ein Bild aus dem Flughafen. »Ich gehe schweren Herzens. Ich gehe mit einem Laptop, einem kaputten Handy und vier Festplatten. Ich habe mich nicht von meinen Liebsten verabschiedet. Ich konnte nicht. Es bricht mir das Herz.«
Sie ist nun in London und dankbar dafür, dass sie gehen konnte. Trotzdem wehrt sie sich dagegen, die Nato-Truppen als ihre »Retter« anzusehen. Das sind sie auch nicht. Dagegen sprechen die Tausenden von Toten und das Elend jener, die zurückgeblieben sind ebenso wie das Elend aller, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Schuld daran ist auch die deutsche Politik, die sich weigert, Verantwortung für jene zu übernehmen, denen man angeblich Freiheit und Demokratie bringen wollte. Und die man stattdessen entweder selber getötet oder denen überlassen hat, die eigentlich bekämpft werden sollten.
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