- Politik
- Streit um EU-Recht
Konflikt zwischen Berlin und Brüssel
Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren, weil sich das Bundesverfassungsgericht über EU-Recht hinweggesetzt haben soll
Der Konflikt in der Frage, ob EU-Recht in jedem Fall Vorrang gegenüber dem nationalen Recht hat, wird derzeit nicht nur zwischen Polen und der Europäischen Kommission ausgetragen. Auch die Bundesrepublik ist diesbezüglich mit der Brüsseler Behörde aneinandergeraten. Im Mai vergangenen Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht zum Programm für den Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten der Europäischen Zentralbank (EZB) befunden, dass dieses Vorgehen nicht in den Zuständigkeitsbereich der EZB falle.
Damit haben die Richter in Karlsruhe dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) das letztinstanzliche Wort in der Sache faktisch aberkannt. Das Bundesverfassungsgericht vertritt den Standpunkt, dass die Kompetenzen des EuGH eingeschränkt sind. Dieser könne nur in dem Sinne handeln, in dem er von den Mitgliedstaaten dazu ermächtigt wurde. Das Programm der EZB gehöre nicht dazu.
Das Programm war im Jahr 2015 beschlossen worden. Die Europäischen Zentralbank verfolgte damals das Ziel, die Preisstabilität in der Eurozone zu wahren. Nationalkonservative Politiker aus Deutschland waren gegen das Programm vor Gericht gezogen. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler hatte gemeinsam mit dem früheren AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke, der mittlerweile für die Kleinpartei Liberal-Konservative Reformer aktiv ist, die Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie warfen der Europäischen Zentralbank vor, Fiskalpolitik zu betreiben, obwohl dafür die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union zuständig seien.
Das Bundesverfassungsgericht leitete den Fall zunächst an den EuGH weiter. Dieser entschied Ende 2018, dass das Handeln der EZB nicht zu beanstanden sei. Eineinhalb Jahre später urteilten dann die Richter in Karlsruhe anders und folgten den Beschwerdeführern teilweise. Bundesregierung und Bundestag wurden dazu verpflichtet, bei der Europäischen Zentralbank darauf hinzuwirken, dass diese eine nachträgliche Begründung für die Verhältnismäßigkeit ihres Programms liefert. Das geschah auch und der Bundestag begrüßte die Verhältnismäßigkeitsprüfung der EZB vom Juni vergangenen Jahres. Das Parlament war der Auffassung, dass diese Prüfung den Anforderungen genüge, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergaben. Auch die Karlsruher Richter waren zufrieden und sahen ihr Urteil somit umgesetzt.
Damit war der Fall allerdings noch nicht abgeschlossen. Denn auch die Europäische Kommission diskutierte darüber. Sie wollte unbedingt verhindern, dass sich das Bundesverfassungsgericht künftig erneut über Entscheidungen des EuGH hinwegsetzt. Ein solches Verhalten fürchtete die Kommission außerdem von Verfassungsgerichten in anderen Staaten der Europäischen Union. Deswegen hat sie im Juni ein Vertragverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Der Vorwurf lautete, dass die Bundesrepublik gegen den Vorrang des EU-Rechts verstoßen habe.
Die Brüsseler Behörde sah darin einen gefährlichen Präzedenzfall, der die Entscheidungshoheit des Europäischen Gerichtshofes aushöhlen könnte. »Dies könnte die Integrität des Unionsrechts gefährden und den Weg für ein Europa ›à la carte‹ öffnen. Die Europäische Union ist und bleibt eine Rechtsgemeinschaft, das letzte Wort zum EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen«, hieß es vonseiten der EU-Kommission.
Anfang August hatte die Bundesregierung nach Informationen der »Süddeutschen Zeitung« fristgemäß eine Antwort an die Europäische Kommission gesendet. Diese prüft nun, ob mit diesem Schreiben alle Bedenken ausgeräumt werden können. Wenn das nicht so ist, besteht für die EU-Kommission die Möglichkeit, die Bundesrepublik in einem mehrstufigen Verfahren zu verklagen. Der Fall würde dann vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg landen.
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