Von der »Grünen Lunge« der Erde

Wie eine falsche Metapher den Regenwaldschutz auf den Holzweg führt

  • Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer die Metapher von der »Grünen Lunge« der Erde, die unseren Sauerstoff produziere, schon vor Jahrzehnten in die Welt brachte, ist kaum noch sicher zu sagen. Doch sie hat sich unaufhaltsam als tausendfach wiederholte Analogie und weltweit verwendetes Synonym für den Amazonas-Regenwald durchgesetzt. Doch im Grunde beruht dieses Gleichnis auf einem Missverständnis.

Die Metapher soll suggerieren, dass Amazonien einen Großteil des Sauerstoffs (O2) in der Atmosphäre produziert. Doch dies ist - und das weiß die Wissenschaft schon lange - nicht der Fall. Nichtsdestoweniger verbreitete selbst UN-Generalsekretär António Guterres anlässlich der dramatischen Waldbrände 2019 in Brasilien die Behauptung vom Amazonas-Regenwald als »einer Hauptquelle von Sauerstoff«. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron legte nach: »Unser Haus brennt. Buchstäblich. Der Amazonas-Regenwald - die Lunge, die 20 Prozent des Sauerstoffs unseres Planeten produziert - steht in Flammen.« Und der ehemalige Nasa-Astronaut Scott Kelly, der Amazonien vom All aus kennt, erhöhte diesen Wert noch auf »über 20 Prozent des Sauerstoffs der Welt«.

Es ist zwar richtig, dass der Regenwald tagsüber durch Fotosynthese große Mengen an Sauerstoff freisetzt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn nachts und ohne Licht kehrt sich dieser Prozess um und die Bäume verbrauchen O2. Außerdem leben in Amazonien nicht nur Pflanzen, sondern auch Sauerstoff verbrauchende Tiere und Mikroorganismen. »Es gibt eine ganze Reihe an Gründen, den Amazonas zu erhalten - Sauerstoff gehört nur eben nicht dazu«, so der Erdsystemwissenschaftler Michael Coe vom Woods Hole Research Center im US-Bundesstaat Massachusetts.

Wie Macron oder dessen Berater und zahlreiche Publizisten auf die »20 Prozent« kamen, erläutert Yadvinder Malhi, Professor für Ökosystemwissenschaften an der Universität Oxford diplomatisch auf seiner persönlichen Website. Die 20-Prozent-Angabe stamme aus einem nur teilweisen Verständnis des globalen Sauerstoffkreislaufs. Malhi: »Die Gesamtsauerstoffproduktion durch Fotosynthese an Land beträgt etwa 330 Gigatonnen Sauerstoff pro Jahr. Der Amazonas (knapp die Hälfte der Tropenwälder) macht etwa 16 Prozent davon aus, etwa 54 Gigatonnen Sauerstoff pro Jahr.« Aufgerundet seien dies die erwähnten 20 Prozent.

Woher kommt »unser« Sauerstoff?

Doch auch das Phytoplankton in den Ozeanen betreibt Fotosynthese und erzeugt dabei rund 240 Gigatonnen Sauerstoff pro Jahr, womit der Beitrag des Amazonasgebiets in Bezug auf die gesamte globale Fotosynthese von insgesamt 570 Gigatonnen auf etwa 9 Prozent schrumpfe, so der Ökosystemwissenschaftler. Hinzu komme aber noch, dass der Amazonas als Ökosystem ungefähr so viel Sauerstoff verbrauche, wie er produziere. »In praktischer Hinsicht ist der Nettobeitrag des Amazonas-Ökosystems zum Sauerstoff der Welt praktisch null«, resümiert Malhi. »Das Gleiche gilt für jedes Ökosystem der Erde, zumindest in den für den Menschen relevanten Zeiträumen (weniger als Millionen von Jahren).«

Sind nun die Meere mit ihrem Phytoplankton, zu dem die Algen zählen, die wahre »Lunge der Welt«?

Einige glauben und verbreiten dies wie beispielsweise die Unesco, die Europäische Kommission, selbst einige Berichte des Weltklimarats IPCC und John Kerry, der von Präsident Joe Biden frisch ernannte »Sonderbeauftragte des US-Präsidenten für das Klima«. Anlässlich des »Ocean-Climate Ambition Summit« betonte John Kerry vergangenen Januar als Begründung für den notwendigen Schutz der Ozeane: »Viele Bürger wissen nicht, dass 51 Prozent des Sauerstoffs, den wir einatmen, aus dem Meer stammt.«

Doch auch diese seit einigen Jahren zu einem Mantra gewordene Aussage sei unrichtig, erläutern die Klima- und Meeresforscher Jean-Pierre Gattuso, Carlos M. Duarte, Fortunat Joos und Laurent Bopp im wissenschaftlichen Online-Magazin »The Conversation«. Auch im Meer werde der größte Teil des durch Fotosynthese erzeugten Sauerstoffs direkt von den darin lebenden Mikroben und Tieren sowie durch Zersetzungsprozesse verbraucht. »Tatsächlich liegt die Sauerstoff-Nettoproduktion der Ozeane nahe bei null«, so das Forscherteam.

Der Sauerstoff, den wir heute einatmen, ist ein Vermächtnis der Vorzeit, ähnlich wie Erdöl oder Steinkohle. In den ersten zwei Milliarden Jahren der Erdgeschichte war der O2-Gehalt der Atmosphäre unseres Planeten quasi null. Die Zunahme der Sauerstoffkonzentration in unserer Atemluft haben wir dem Aufkommen von Phytoplankton und später größeren Pflanzen an Land zu verdanken. In einem langsamen Prozess über Millionen von Jahren reicherten sie die Ur-Atmosphäre minimal, aber kontinuierlich mit O2 an, bis sie seit etwa 500 Millionen Jahren ihr bis heute stabiles Sauerstoffniveau von 21 Prozent erreichte, nehmen die Forscher an.

»Selbst wenn wir alle Wälder abholzen oder abbrennen und den gesamten organischen Kohlenstoff, der weltweit in Vegetation und Oberböden gespeichert ist, oxidieren würden, würde dies nur zu einer geringen Verarmung des Luftsauerstoffs führen«, schreiben Gattuso und Kollegen. Und selbst wenn die gesamte Fotosynthese in den Ozeanen und auf dem Festland aufhörte und keinerlei Sauerstoff produziert würde, könnten wir noch jahrtausendelang weiter atmen. Der prognostizierte Rückgang des Luftsauerstoffs würde selbst in Worst-Case-Szenarien mit massiver Verbrennung fossiler Brennstoffe und totaler Entwaldung im Verhältnis zu dem riesigen atmosphärischen O2-Reservoir sehr gering sein. Atmosphärischer Sauerstoffmangel sei also nicht das Klimaproblem, um das sich die Menschheit sorgen machen müsste.

Anders hingegen sieht es beim Sauerstoffgehalt in den Ozeanen aus. Die Meere enthielten nur weniger als ein Prozent des in der Atmosphäre gespeicherten Sauerstoffs.

Aufgrund der globalen Erwärmung steigen auch die Meerestemperaturen und damit sinkt der Sauerstoffgehalt des Wassers. Deshalb breiteten sich sogenannte Sauerstoffminimum-Zonen, also Meeresregionen mit sehr geringem oder fehlendem Sauerstoff aus, was zu einem Rückgang oder vollständigem Verschwinden von atmenden Organismen wie Fischen in diesen Gebieten führe. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeige, so Gattuso und Kollegen, dass sich die Sauerstoffminimum-Zonen bereits um mehrere Millionen Quadratkilometer ausgedehnt haben. Diese Fläche an sauerstoffarmen Meeresgebieten werde bei einem Szenario mit hohen CO2-Emissionen bis 2100 voraussichtlich noch um etwa sieben Prozent wachsen. Der fehlende Sauerstoff in den Meeren müsste uns also Sorgen machen und nicht die Sauerstoffkonzentration unserer Luft.

Lungen produzieren Treibhausgase

Doch zurück zu Amazonien und zur Metapher von der Lunge oder »Grünen Lunge« der Welt.

Was eigentlich macht eine Lunge? Eine Lunge produziert keinen Sauerstoff, sondern sie entzieht ihn der Luft und setzt im Gegenzug Kohlendioxid (CO2) frei. Lungen sind also Treibhausgas- und keine Sauerstoffproduzenten. Da der Amazonas laut jüngsten Ergebnissen einer Langzeitstudie des renommierten brasilianischen Weltraumforschungsinstituts INPE wenigstens seit 2010 zum Netto-Produzenten von CO2 in der Größenordnung einer mittleren Industrienation geworden ist, stimmt dann die Metapher zumindest heute einigermaßen - leider.

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