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Wahn und Wahrheit
Notizen aus Venedig (3): Die Vermarktung einer äußeren Hülle ohne Substanz
Der Wasserschaden im »Hotel La Fenice et des Artistes« war offenbar doch kein bloßer Trick, um mir das mieseste Zimmer im Hause anzudrehen. Da ich inzwischen einiges über venezianische Mentalität gelernt habe, gelingt mir am nächsten Morgen der Umzug in ein Zimmer mit Terrasse. Eines, aus dem man heraustreten kann, mit freiem Blick in den Himmel! Das ist in Venedig immer das Wichtigste, nach Corona sowieso. Die Vorstellung, Parterre in einer engen Gasse in einem tristen, ewig dunklen Raum wohlmöglich eine – nie auszuschließende – vierzehntägige Quarantäne absitzen zu müssen, ist nicht sehr angenehm.
Das neue Zimmer ist ganz anders. Dieses verwinkelte alte Gebäude birgt offenbar beides: dunkle Löcher und Plätze nahe der Sonne. So dicht beieinander liegen völlig getrennte Welten. Das Hotel als Spiegel der Gesellschaft. Doch kaum habe ich mich auf die Seite der privilegierten Hotelgäste vorgekämpft und sitze zufrieden in der Morgensonne mit Blick über die Dächer Venedigs, beginnt es zu lärmen.
Man hämmert und bohrt – eine große zementhaltige Staubwolke verschluckt mich. Als sie sich langsam verzieht, erblicke ich eine alte Badewanne, die aus dem Zimmer nebenan herausgewuchtet wird. Aha, der Wasserschaden! Das bringt mir auf jeden Fall weitere zehn Prozent Rabatt auf den Zimmerpreis, ist der erste Gedanke, den ich fasse, als ich wieder Luft bekomme. In Venedig wird noch der hoffnungsloseste Romantiker zum toughen Geschäftsmenschen, das geht hier gar nicht anders, das hat Methode.
Wozu der venezianische Geschäftssinn wohl Marco Zennaro getrieben hat? Überall in der Stadt, jedenfalls an den wenigen Stellen, wo noch alteingesessene Venezianer wohnen, hängen Plakate: »Free Marco!« Eine urkapitalistische Stadt in solidarischem Aufruhr? Ich google, worum es sich handelt: Der venezianische Geschäftsmann Zennaro, der mit Elektrotechnik handelt, hatte Geschäfte im Sudan zu laufen. Als es mit diesen Schwierigkeiten gab, flog er nach Khartum und wurde sofort festgenommen, kam ins Gefängnis und zwar unter Bedingungen, die ihn vermutlich an jene Bleikammern erinnerten, die in Venedig inzwischen ein Museum sind. In Khartum offenbar nicht.
Jedenfalls war sein Leben akut in Gefahr – und hätten die Venezianer noch ihre legendäre Flotte, sie wäre wohl zur Befreiung Marco Zennaros ausgeschickt worden. Da ist den Venezianern wohl endgültig klar geworden, dass sie keine Weltmacht mehr sind. Nicht mal zur überregionalen Pressekampagne reicht es mehr – Marco wer? fragt man schon im eine halbe Bahnstunde entfernt liegenden Padua. Jetzt ist Marco Zennaro auf Kaution frei (über deren Höhe man natürlich weiterhin streitet), darf aber den Sudan nicht verlassen.
Venedig hat längst seine innere Substanz verloren und die Hülle wird noch eine Weile vermarktet. Das hat gewiss seine ästhetischen Reize, aber bleibt eine traurige Sache. Wie schnell solcherart innerer Verfall geht, sieht man auf der Inselgruppe Murano. 1291 mussten alle Glasbläser – nach einer Reihe von Bränden – Venedig verlassen. Die Schmelzöfen waren der Serenissima zu gefährlich geworden. Also bekamen die Glasbläser eine eigene kleine Insel in Sichtweite für ihre Industrie.
Noch vor zwanzig Jahren beherrschten hier Glasmanufakturen mit ihren Werkhallen das Bild, von Barovier & Toso, Venini bis Colonna – lauter stolze Traditionsfirmen, die ihr Glas in alle Welt verkauften. Aber das ist vorbei, wie der Markt für teures Porzellan zusammengebrochen ist, so auch der für besonderes Glas. Schade, denn dies war Gebrauchskunst auf höchstem handwerklichen Niveau, das jetzt offenbar keiner mehr braucht. Billiges Pressglas tut es auch.
Am Geldmangel derer, die hierherkommen, liegt es offenbar nicht, dass man die Qualität des mundgeblasenen Glases gering schätzt. Der typische Tourist von heute zahlt ohne mit der Wimper zu zucken zweihundert Euro für eine durchschnittliche Übernachtung und sitzt in überteuerten Restaurants bei eigenschaftslosem Essen und mieser Bedienung. Und das auf Murano, wo die traditionsreiche Glasindustrie gerade gestorben ist. Die ehemaligen Glasbläser gehen wie Denkmale einstiger Größe umher, so wie die alten Bergleute bei uns. Sie strahlen die Würde schwerer Arbeit aus, die bereits niemand mehr versteht.
In Murano also vollzieht sich der gepriesene Strukturwandel. Tourismus statt Industrie! Hier sind auch die großen Hotelketten bereits zur Stelle, die Venedig noch versucht, draußen zu halten. Bis hierher sind sie schon gekommen. Das Hyatt wirbt mit Sonderpreisen, die sind direkt günstig. Vor einigen Jahren habe ich da für einige Tage und Nächte gewohnt, das Prinzip (manche sagen dazu: »Philosophie«) der Ausstattung aber ist so minimalistisch, dass man lange nach einem Sitzplatz suchen muss. Was einst eine Fabrikhalle war, ist nun ein vollklimatisierter Wohnkomplex, in dem sich keine Fenster öffnen lassen, was sich in Corona-Zeiten als schwerer Nachteil erweist.
Mein Appartement, mitten zwischen den alten Fabrikhallen, ist mit allem aufdringlichen Willen zum Hightech ausgestattet, statt Lichtschalter gibt es nur achtfeldrige Leuchttafeln, auf denen man lange herumtippen kann, ohne damit etwas zu erreichen. Die schnurlosen Nachttischlampen sind gänzlich außer Funktion. Das Tippen und Wischen der Smartphone-Junkies verdrängt gerade die letzten simplen Schalter. Eine gespenstische Szenerie, die zwar auf den ersten Blick hell und modern wirkt, aber auf den zweiten ein unheimliches Eigenleben entwickelt.
Das bringt mich zu einem besonderen Venedig-Film, in dem das Unheimliche unter der Maske der Freundlichkeit wohnt: Paul Schraders »Der Trost von Fremden« mit Christopher Walken und Helen Mirren. Zwei typische Venedig-Touristen geraten in eine Falle, die sie aus lauter Arroganz so lange übersehen, bis es zu spät ist. Die Freundlichkeit, die man ihnen entgegenbrachte, war falsch. Mehr noch, sie weckt Gefühle, die wir im Corona-Jahr kennengelernt haben: die Existenz als Gefängnis in einer Stadt als Labyrinth. Dem entkommt man nicht. Paul Schrader drehte den Film 1990, in einem Moment, als ihn niemand mehr machen wollte, weil jede herkömmliche Psychologie hieran scheitern musste. Schrader benennt den Ausgangspunkt seines Tod-in-Venedig-Films so: »Dass die Schönheit an sich gefährlich ist. Die Analogie, die ich daraus entwickelte, besagte, dass wir einen Film schaffen mussten, der den schönsten, denkbar wohlgeformtesten Apfel darstellt, den man je zu sehen bekam, der sich aber mit dem ersten Bissen unmittelbar in ein Maul voll Würmer verwandelt.«
Zu manchen tieferen Einsichten ist Venedig eben doch noch gut, und seien sie so schockierend wie jene, die Jean-Paul Sartre in »Königin Albermale oder der letzte Tourist« notierte: »Es gibt in Venedig mit Sicherheit einen Mangel an Realität, der es unheimlich macht. Es wirkt wie ein aus blassen Spiegeln des Himmels im Wasser entstandenes Trugbild. Und ich fühle mich sehr oft selbst wie ein Trugbild. Alles wird verschwinden: bleiben wird das Wasser.«
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