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Unter blauer Fahne
Der kurdische Stadtteil Scheich Maksud in Aleppo befindet sich seit der türkischen Invasion in Afrin im Ausnahmezustand
Es ist Ende Hochsommer, trockene Hitze liegt über Aleppo. Mohamed ist gerade durch die Trümmer des Al-Kindi-Krankenhauses gelaufen, das etwa acht Kilometer nördlich der Stadt auf einem Hügel liegt. Die Erinnerung an die Zerstörung lastet noch auf ihm, als er bereits im Wagen sitzt und zurück in die Stadt fährt. Mohamed ist ein kurdischer Fotograf, der ein kleines Atelier im Stadtteil Scheich Maksud hat, wo er vor dem Krieg Passfotos machte sowie Hochzeiten und andere Ereignisse ablichtete. Seit Beginn des Krieges 2011 leistet Mohamed seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee ab und begleitet Journalisten.
Die Zerstörung der Al-Kindi-Klinik ist für ihn eine schwere Niederlage, die Aleppo im Krieg hinnehmen musste. Einst galt das Krankenhaus mit 700 Betten als eine der größten und renommiertesten im Mittleren Osten und war auf Krebserkrankungen spezialisiert, erzählt er. 2012 wurde das Spital dann von dschihadistischen Gruppen belagert. Auf einem Hügel gelegen, war es für den militärischen Sturm auf Aleppo ein wichtiger Stützpunkt, den die Kämpfer einnehmen wollten. Die einige Kilometer weiter östlich gelegene Industriestadt Scheich Najjar, hatten sie bereits überrannt und geplündert. Ein Jahr lang verteidigte die syrische Armee das Krankenhaus gegen den Ansturm, doch im Dezember 2013 lenkten zwei Selbstmordattentäter zwei Lastwagen, beladenen jeweils mit 40 Tonnen Sprengstoff, in den Eingangsbereich der Klinik und sprengten sich in die Luft. Das Gebäude brach in einer riesigen Staubwolke zusammen.
Auf seinem Handy sucht Mohamed ein Video der Fanatiker, die ihr Zerstörungswerk bejubeln. Westlichen Medien war der Angriff kaum eine Zeile wert. Der Besuch der Trümmer des Krankenhauses macht Mohamed nicht nur wegen der Hitze zu schaffen. Die Erinnerung an das, was dort geschah, bekomme ihm nicht gut, murmelt er.
Im Auto erzählt er, wie es nach der Zerstörung der Klinik weiterging. Die Dschihadisten rückten nach Aleppo vor und nahmen nördlich der Stadtgrenze die Ringstraße 214 ein. Die wurde als «Castello Road» zur wichtigsten Versorgungsstraße für die Kampfverbände, die im Laufe des Krieges einen Belagerungsring um Aleppo bildeten.
Scheich Maksud am nördlichen Stadtrand von Aleppo wurde ihr nächstes Ziel. Ein Angriff konnte abgewehrt werden, die kurdischen Volksverteidigungskräfte quartierten sich ein. Bis 2013 hatten die Kurden sich im syrischen Krieg weitgehend neutral verhalten. Mit dem Angriff der Dschihadisten auf Aleppo begannen sie aber zwischen der syrischen Armee und den Dschihadisten zu lavieren und wurden in Kämpfe verwickelt.
Der nördlich von Scheich Maksud liegende «Wohnkomplex der Jugend» wurde zur Kampfzone - heute ragen die Ruinen der Appartementhäuser, die der jungen Bevölkerung am Rande von Aleppo billigen Wohnraum bieten sollten, verloren in den Himmel. Auch Scheich Maksud blieb nicht vom Krieg verschont. Hochhäuser, die vor dem Krieg die Silhouette des Stadtteils bildeten, sind zerschossen.
Nach der Befreiung von Aleppo 2016 übernahmen kurdische Kämpfer in Absprache mit der syrischen Armee Kontrollpunkte entlang der «Castello-Straße» und im «Wohnkomplex der Jugend». Die dort aufgehängten kurdischen Fahnen sind verschwunden, doch die Zufahrtstraße nach Scheich Maksud wirkt wie ein Grenzübergang. Die syrische Fahne weht neben der blauen Fahne der kurdischen Selbstverwaltung. Durch ein hohes befestigtes Tor führen jeweils eine Straße und ein Fußweg hinauf in den Stadtteil und auf der anderen Seite wieder hinaus in Richtung Stadtzentrum. Frauen und Männer in Uniformen der Asayish, der kurdischen Sicherheitskräfte, dirigieren Fahrzeuge und Fußgänger hin und her und erteilen Befehle in kurdischer Sprache.
«Fahren Sie an die Seite!», fährt uns eine weibliche Sicherheitskraft im Kommandoton an, als sie das Schild «Presse» sieht. Am Wachhäuschen hat uns der Mittelsmann zur kurdischen Selbstverwaltung schon erwartet und winkt Mohamed zu sich. Die beiden Männer begrüßen sich freundschaftlich, dann folgen wir einem vorausfahrenden Auto durch die engen Straßen den Berg hinauf. Schilder und Transparente sind in kurdischer Sprache; es hängen auch Bilder von Abdullah Öcalan, dem Führer der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, der in Syrien politisches Asyl hatte. Seit 1999 ist Öcalan Gefangener der Türkei, das Todesurteil gegen ihn wurde in lebenslange Haft verwandelt. Der vorausfahrende Wagen biegt in eine Seitenstraße ab und taucht in ein Labyrinth aus schmalen Gassen ein.
Die Vertretung der kurdischen Selbstverwaltung residiert in einem unscheinbaren Haus. Über der Eingangstür hängt ein verblichenes Transparent, auf den Balkonen stehen Pflanzen in verrosteten Kanistern, die als Blumentopf dienen. Die politischen Vertreter der Kurden von Scheich Maksud sind geübt im Umgang mit Besuchern. Höflich werden wir in das Empfangszimmer gebeten, Kaffee, Wasser und Saft werden angeboten.
Die genaue Zahl der Einwohner von Scheich Maksud sei nicht bekannt, sagt Mohammed Sheikho. Seit die Türkei Anfang 2018 mit den Dschihadisten den Bezirk Afrin besetzt habe, seien mehr als die Hälfte der Bewohner von Scheich Maksud Vertriebene aus den rund 300 Dörfern von Afrin. Man gehe von bis zu 200 000 Personen aus, die in dem Stadtteil mittlerweile lebten. Insbesondere den Zugewanderten gehe es nicht gut, erklärt der 60-Jährige. Sie hätten Häuser, Felder und Vieh verloren und Tausende Olivenbäume. Wenn jemand versuche, zurückzukehren, um die Ernte einzubringen, könne er verhaftet und beschuldigt werden, mit der kurdischen Selbstverwaltung zu kooperieren.
Es gebe verlässliche Informationen darüber, dass Dschihadisten neue Siedlungen bauen würden, sagt Sheikho. Viele würden in Zelten um die kurdischen Dörfer herum leben. Das wüssten sie von Leuten, die unter großen Gefahren unbeobachtet die Grenze von Afrin überqueren konnten und nach Scheich Maksud gekommen seien: «Sie nehmen große Umwege in Kauf und berichten uns dann, wie es in unserer Heimat aussieht.» Er selber habe Land in Afrin, erzählt Sheikho. Doch die Verbliebenen hätten Angst, mit ihm zu telefonieren: «In unserem Dorf leben noch fünf Familien, aber sie trauen sich nicht einmal, ein Foto zu machen, um es uns zu schicken, weil sie Angst haben, von den Besatzern bestraft zu werden.»
Die 31-jährige Valerina Abdo verweist auf die schwierige Situation der Frauen in Afrin. Es gebe Unterstützung von Frauenorganisationen, aber was sie wirklich benötigten, sei Arbeit: «Alles, was es für Frauen gibt, sind kleine Projekte für Handarbeiten beispielsweise. Aber davon können sie nicht leben.» Geld werde an die Frauen ausgeteilt, sie würden zu Bildungsveranstaltungen eingeladen, um Kontakt zu halten. «Es gibt Frauenbäckereien und spezielle Märkte für Frauen, wo sie ihre Produkte anbieten können. Aber es reicht nicht. Es fehlen Arbeitsmöglichkeiten. In anderen Teilen des Landes sind große landwirtschaftliche oder industrielle Projekte entstanden, das fehlt hier.»
«Afrin ist ein Gefängnis geworden», sagt Sheikho. Die Türkei verfolge eine Politik des «demografischen Wandels», sagt er und verweist auf die Ansiedlung von Dschihadisten, die in Homs, Idlib oder Damaskus gekämpft hätten und jetzt in den Häusern kurdischer Familien lebten. Auch Turkmenen seien an der Grenze zur Türkei angesiedelt worden. «Sie haben das Vertrauen der Türkei und fungieren wie Grenzwächter.»
Abdo und Sheikho kritisieren beide die Politik und die Medien in Europa. Die ignorierten komplett, was in Afrin und entlang der nördlichen Grenze zur Türkei geschehe: Dort hissten die Besatzer die türkische Fahne und führten Türkisch an den Schulen ein. «Sie verbieten den Gebrauch syrischen Geldes, verteilen türkische Personalausweise, und sie stehlen unsere Ernte», zählt Sheikho auf. Vielleicht planten sie als Nächstes noch ein Referendum darüber, ob die Leute als Teil der Türkei annektiert werden wollten. «Die Türkei will uns vernichten», sagt Valerina Abdo. «Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht unsere Gebiete bombardieren. Sie stoppen das Wasser im Euphrat, und wenn sie es könnten, würden uns auch die Luft zum Atmen nehmen.»
Alles, was geschehe, werde von der kurdischen Selbstverwaltung dokumentiert und über ihre Verbindungsbüros der EU und der Uno berichtet. Aber nichts sei geschehen, um die Türkei zu stoppen, kritisiert Sheikho. «Es gibt weder politischen noch wirtschaftlichen oder militärischen Druck auf die Türkei, ihr Verhalten in Syrien zu stoppen. Im Gegenteil, sagt Sheikho: »EU- und Nato-Länder haben kürzlich sogar 3,5 Milliarden US-Dollar an die Türkei bezahlt, um syrische Flüchtlinge zu versorgen.« So viele Delegationen seien in die Gebiete der Kurden gekommen, fügt Abdo hinzu: »Sie versprechen viel und loben unser Projekt der Selbstverwaltung. Aber mehr als schöne Worte gibt es nicht.«
Es liefen zwar Verhandlungen etwa mit Russland, Iran und auch mit der Türkei, erklärt Mohammed Sheikho. Doch deren regionale Interessen blockierten oftmals getroffene Vereinbarungen. Die Frage nach der Rolle der US-Armee im Nordosten Syriens ist den beiden Vertretern der kurdischen Selbstverwaltung sichtlich unangenehm. In Syrien wird die enge Kooperation der Kurden mit der US-Armee scharf kritisiert. Vor allem, dass Öl und Gas, Weizen und Baumwolle aus den Gebieten im Nordosten den Rest des Landes nicht oder nur teuer über Schmuggelwege erreichen, bringt die Bevölkerung gegen die kurdisch-amerikanische Kooperation auf.
»Die wirkliche Gefahr kommt von der Türkei, nicht von uns«, erklärt Sheikho. Den Preis bezahlten sowohl der syrische Staat als auch die Syrer. »Wir wollen uns nicht von Syrien abspalten, und wir wollen auch keinen kurdischen Staat errichten«, sagt er mit Nachdruck. »Aber wir wollen ein Syrien, in dem alle seine Bürger die gleichen Chancen haben.«
Draußen sind die Straßen belebt. Es heißt, abends werde Scheich Maksud zu einem der belebtesten Märkte von Aleppo: mit Kleidung, Schuhen, Elektrogeräten und allerlei mehr, was aus dem Nordirak herübergeschmuggelt und billig verkauft wird. Bestätigen will das niemand. Der Fotograf Mohamed dirigiert den Wagen noch zu seinem kleinen Fotoatelier. Er müsse eine Kamera abholen, entschuldigt er sich für den Umweg. Am Abend solle er bei einer Hochzeit filmen.
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