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»Das Gefühl war, dass die Geschichte mit uns anfängt«

Früher war in Hoyerswerda alles möglich, für die »Kinder von Hoy«. Ein Gespräch mit der Autorin und Regisseurin Grit Lemke

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 14 Min.

»Kinder von Hoy« heißt Ihr Buch über Hoyerswerda. Sie selbst sind dort aufgewachsen. Unglaublich, aber wahr: Früher war das die Stadt der Zukunft, oder?

Es war immer von der Zukunft die Rede, man war von Zukunft umgeben. Hoyerswerda ist eine Stadt voll mit Kunst, Reliefs und Mosaiken, auf denen oft Raketen und Kosmonauten zu sehen sind, die in die Zukunft starten. Es war immer klar, dass Hoyerswerda ganz toll wird. Aber auch, dass es das noch nicht ist. Das Gefühl war: Die Geschichte fängt mit uns an. Als hätte dieser Ort vorher keine Geschichte gehabt.

Grit Lemke
Die Filmregisseurin Grit Lemke zog 1970 mit ihrer Familie nach Hoyerswerda. Sie war fünf Jahre alt und Hoyerswerda die kinderreichste Stadt der DDR. Alles war im Werden, die Stadt wuchs mit dem Gaskombinat Schwarze Pumpe. Es entwickelte sich eine kreative proletarische Boheme. Mit dem ersten Pogrom nach Kriegsende wurde die Stadt bundesweit bekannt. Es begann am 17. September 1991. Danach war nichts mehr wie vorher. In ihrem neuen Buch »Kinder von Hoy« erzählt Grit Lemke die Geschichte ihrer Generation.

Das ist die Geschichte der neuen Stadt, die parallel zum Kombinat Schwarze Pumpe gebaut wurde. Daneben gab es das alte Städtchen Hoyerswerda. Die neue Stadt war anfangs eine Art Wildwest-Stadt, schreiben Sie. Dorthin kamen die Menschen, die Glück und Arbeit gesucht haben.

Zuerst kamen die Goldgräber und Glückssucher. Die haben die neue Stadt gebaut, das war ein bisschen wie die Arbeiter in »Spur der Steine«. Die haben in Baracken gewohnt, das hieß dann zum Beispiel Wohnstadt »Frohe Zukunft«. Danach kamen die, die in Schwarze Pumpe arbeiten sollten. Niemand war dafür ausgebildet, obwohl die Verarbeitung von Braunkohle technologisch kompliziert ist. Es gab keine Fachkräfte, die mussten erst in einem gigantischen Qualifizierungsprogramm ausgebildet werden. Unsere Eltern waren permanent in der Weiterbildung. Und sie waren alle im selben Alter. Das war praktisch eine Stadt voller junger Leute. Deshalb wurde das neue Altersheim in eine Geburtsklinik umgewandelt.

Doch die Eltern hatten für ihre Kinder keine Zeit.

Deshalb wohnten viele Kinder zuerst noch bei den Großeltern auf dem Dorf, während die Eltern die neue Stadt errichteten. Ich habe zum Beispiel zu meiner Oma Mutti gesagt und zu meiner Mutter Mami und zu meiner Uroma Oma. Ich dachte immer, das ist was ganz Besonderes. Und dann haben mir meine Freunde erzählt, dass es bei denen ganz genauso war. Für das Buch habe ich viele Interviews gemacht – das sind eigentlich alles Freunde von mir. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Geschichte von allen Hoyerswerdschen zu erzählen, sondern es ist eine Gruppe von Leuten, die so alt sind wie ich, die meisten geboren in den 60er Jahren, aufgewachsen in Hoyerswerda.

Und dann sind sie in die Stadt gezogen, die noch nicht fertig war.

Man dachte am Anfang, in einem halben Jahr ist die fertig. Aber Hoyerswerda wurde bis zum Ende der DDR nicht fertig. Das haben die Eltern gemerkt und ihre Kinder in die unfertige Stadt geholt. Als wir angekommen sind, war es eine einzige Baustelle. Hinter jedem neuen Haus war Wildnis. Von den vielen Baustellen entstanden Berge von Aushub. Da war auf einmal so ein kleines Gebirge in der Stadt, das hieß die »Weißen Berge«. Und dann wurden Banden gebildet, für die Berge und die Wildnis. Das war eine sehr abenteuerliche Kindheit.

Die freien Kinder von Hoyerswerda.

Diese Freiheit, die habe ich mir nicht ausgedacht, den Begriff haben Protagonisten im Buch benutzt. Das war grenzenlos. Man konnte überallhin, alles machen. Eltern waren zumeist komplett abwesend. Die haben sich um alles Mögliche gekümmert, und wir sind irgendwo rumgestromert – bis man zum Abendessen gerufen wurde.

Fuhren denn keine Autos auf den Straßen?

Nein, die standen in den Garagen, die waren zu kostbar. Die Straßen waren immer frei. Es gab Fahrräder. Damit fuhren die Männer zu ihren Garagen, das war ihr Refugium. Ich weiß gar nicht, ob eine Frau jemals so eine Garage betreten hat. Und dann gab es natürlich noch die Schichtbusse nach Schwarze Pumpe. Die sind über die sogenannte Magistrale gerollt. Es gab die erste Welle, die zweite Welle, die dritte Welle.

Die dritte Welle war die Nachtschicht?

Nein, die erste Welle fuhr um 4.50 Uhr. Und die dritte Welle war dann für die Leute, die morgens noch ihre Kleinkinder wegbringen mussten, und für die Büroarbeiter.

Die Menschen lebten in Wohnkomplexen, WK abgekürzt. War jedes Hochhaus wie ein eigenes Revier?

Wie ein eigenes Dorf. Und der Marktplatz war die Fahrstuhletage. Die Fahrstühle haben nur in der dritten, sechsten und neunten Etage gehalten. Und in der sechsten gab es keine Zwischenwände, die ging praktisch durch den ganzen Block, da konnte man als Kind komplett durchrennen. Zum einen Eingang rein, zum anderen wieder raus. Und die Erwachsenen waren völlig entnervt, weil die dich nie gekriegt haben. Es war unmöglich, da eine Ordnung herzustellen, praktisch unbeherrschbar.

Und dann gab es da die Wäscheannahmestelle vom VEB Schwanenweiß. Die Bettwäsche wurde zentral gewaschen und von den Frauen dahin gebracht und wieder abgeholt, assistiert von den Kindern. Dann standen die da und haben erst mal Ewigkeiten palavert. In der Zeit hätten die die Wäsche dreimal waschen können. Es gab ja kein Telefon, aber du hast trotzdem immer alles erfahren. Du brauchtest nur einmal auf die Fahrstuhletage zu gehen.

Im Buch schreiben Sie, dass alle Wohnungen gleich waren, das Kinderzimmer immer an derselben Stelle.

Und alle hatten eine Fischgräte an der Wand, um die Schlüssel dranzuhängen. Die hat jedes Kind im Werkunterricht hergestellt. Und wer keine Kinder hatte, der hat dann eben von einer Familie mit vielen Kindern so eine Fischgräte bekommen. Es gab in Hoyerswerda keine einzige Wohnung ohne Fischgräte.

Und später haben alle dieselben Bücher gehabt, steht in Ihrem Buch.

Und auch gelesen! Es gab sehr viele Bibliotheken, in der Schule, im Betrieb – und alle mit ausgebildeten Bibliothekarinnen. Das waren fast nur Frauen. Und es gab mehrere Buchhandlungen. Das war so eine Atmosphäre, dass selbst die, die erst nicht lesen wollten, dann gelesen haben. Das gehörte zum guten Ton, ebenso ins Theater zu gehen und ins Konzert – in einer durch und durch proletarischen Stadt. Wenn man nach Berlin ins Theater kam, wurde geguckt: Jetzt kommen die Proletarier.

Und umgekehrt: An anderer Stelle schreiben Sie, dass Sie sich immer gewundert haben, wenn die Leute aus Berlin sagen, sie hätten auch in der DDR gelebt. Weil Hoyerswerda eigentlich mehr DDR gewesen sei. Sozusagen »echte DDR«?

Berlin war doch nicht DDR! Da gab es alles, und bei uns wurde im Winter, wenn es knapp wurde mit der Energie, als Erstes der Strom abgestellt, den wir in Schwarze Pumpe selbst produziert hatten. Damit in Berlin weiterhin die Neonreklame leuchten konnte.

Es kamen interessierte Schriftsteller wie Brigitte Reimann und Heiner Müller nach Hoyerswerda, auch um darüber zu schreiben.

Brigitte Reimann hat ja auch in Hoyerswerda gelebt. Da gab es viele Verbindungen, nicht nur mit Heiner Müller, auch mit Christa Wolf oder Volker Braun. Für die war der Kontakt zu den Leuten attraktiv, glaube ich. Es gab auch einen Freundeskreis für Kunst und Literatur. Damit konnten wir aber nicht viel anfangen, für uns Jüngere war das zu abgehoben und steif. Das waren die Eltern, wir waren einfach eine andere Generation.

Aus der Singebewegung entwickelte sich um die Brigade Feuerstein eine neue Kulurszene, die ihre eigenen Stücke aufgeführt hat – in eigenen Klubs. Weil Hoyerswerda so weit ab vom Schuss war, konnten sogar Theaterstücke aufgeführt werden, die im ganzen Land verboten waren, schreiben Sie, weil es die örtliche Zensur nicht kapiert hat.

Man konnte wirklich machen, was man wollte. Das ist der Geist von Hoyerswerda, dass man begreift: Um uns kümmert sich keiner. Wir dürfen euch den Strom schicken und die Kohle, aber ansonsten habt ihr uns hier einfach vergessen. Deswegen musst du alles selber machen. Wenn du eine Wiese haben willst, die musst du dir selber säen. Wenn du Bäume haben willst, pflanze sie selbst. Und wenn du Theater haben willst, dann musst du irgendwie Theater machen.

Im Buch wird es so dargestellt, dass Gerhard Gundermann eine neue Figur schafft, die nicht mehr so fortschrittsoptimistisch ist, ein bisschen gebrochener und melancholischer.

»Tränchen Traurig« heißt die. Gundermann hat mehrere solcher Figuren geschaffen, er hat ja rund 30 Stücke geschrieben. Eigentlich war er Schlagzeuger; bei der Brigade Feuerstein wurde er zunächst versteckt, er durfte kein Instrument spielen und nicht singen. Denn er galt als derjenige, der es nicht kann. (lacht) Aber dann hat er verbissen in seiner Wohnung Gitarre geübt – er war ja anfangs auch der Einzige, der keine Familie hatte.

Ist Gundermann selbst eine enttäuschte Figur wie das »Tränchen Traurig«? Er ist aus der Armee rausgeflogen, aus der Partei und auch noch aus der Stasi.

Ja, das stimmt. Und deshalb ist in Hoyerswerda bis heute keine Straße nach ihm benannt. Das wird jedes Jahr von der Stadt abgelehnt, mit der Begründung, man würde keine Straßen nach IMs benennen.

Dann hat er mit der Brigade Feuerstein einen legendären Kellerklub gegründet.

Das FMP. Das war mal so eine Bockwurschtbude, die hat die Brigade Feuerstein als Probenraum bekommen. Und es fehlte ein Ort, wo Kultur stattfinden kann, und dann haben sie diesen Klub dort gemacht. Das war die Keimzelle.

Die Veranstaltungen gingen bis fünf Uhr morgens, berichten Sie. Wenn die betrunkenen Besucher aus dem Klub traten, konnten sie die Arbeiter der ersten Welle sehen.

Daran kann ich mich noch gut erinnern. Man ist nach Hause geschwankt, und dann standen da schon die Aktentaschen in einer Reihe auf der Straße. Damit haben die Arbeiter, die die erste Welle fahren, sich einen Sitzplatz in den Bussen reserviert: Die sind vier Uhr morgens kurz auf die Straße gegangen und haben ihre Aktentasche hingestellt oder einen Schlüsselbund hingelegt. Wenn der Bus kam, sind sie in der Reihenfolge der Aktentaschen eingestiegen.

Dann ist noch die Rede von einem ominösen Tunnel, der die Stadt mit einem neuen Wohnkomplex verbindet.

Kurz vor Ende der DDR wurde der WK10 gebaut. Um ihn mit der Stadt zu verbinden, wurde unter der Fernverkehrsstraße ein Tunnel gebaut. Der war ungefähr nach einer Woche unterspült und unbegehbar, weil zu dieser Zeit alles nur noch lieblos hingerotzt wurde. Anders als am Anfang hat sich am Ende der DDR wirklich niemand mehr für irgendetwas interessiert. Deshalb hieß das erste Stück, das wir gemacht haben, »Der Tunnel«, aufgeführt in unserem neuen Klub. Der hieß der »Laden«, benannt nach Erwin Strittmatters Romanen.

Aus dem FMP heraus hatte sich eine Kleinkunstszene entwickelt – mit Theater, Musik und Kunst. Gab es da mal Probleme?

Eigentlich nicht. Nur als wir Dada gemacht haben, gab es Ärger. 1986 war ein Dada-Jubiläum. Da hat jemand von uns das Ortsschild angemalt, ein »da« hinzugefügt: »Hoyerswerdada«. Das hat ein paar Tage gedauert, bis das bemerkt wurde. Und eine Dada-Soiree haben wir veranstaltet, bei der der Cottbuser Maler Hans Scheuerecker ein sogenanntes Bodypainting gemacht hat, in dem er eine nackte Frau angemalt hat. Die Fotos davon sind auf Umwegen bei der Stasi gelandet, weil die jemand nach Schwarze Pumpe mitgenommen hat. Da hieß es: »Oh, Porno-Exzesse hier im Jugendklub.«

Vier Wochen später wurden wir vorgeladen und anschließend versetzt. Ich arbeitete im schönen neuen Haus der Berg- und Energiearbeiter und kam nun in die alte Alfred-Scholz-Halle, wo gar keine Veranstaltungen mehr stattfanden. Da saß ich dann allein rum, zur Strafe. Da war man schon geknickt, aber nach paar Monaten wurden wir alle wieder zurückversetzt.

Sahen Sie sich denn als Künstler?

Es haben sich alle für Kunst interessiert – aber das waren keine Künstler, viele waren Schichtarbeiter. Einer war Schlosser im Tagebau. Den hat mal irgendjemand mitgeschleppt in den »Laden« und auf eine Kunstausstellung in Dresden. Dann hat er gerufen: »Ach, das ist Kunst?! Na, dann ist ja super.«

Ihr Buch ist kunstvoll gemacht, als eine kollektive Erzählung. Es erzählt ein »Wir«, das das Buch vorantreibt. Aus dieser kollektiven Erzählung treten individuelle Personen heraus, oft in einer Sprache mit Dialekt. Gab es da Vorbilder?

Ein bisschen Didier Eribon, aber der hasst ja seine Herkunft. Ich hab mit meiner Herkunft nichts abzurechnen. Aber ich mag diese poetische Soziologie, so wie Annie Ernaux sagt: Ich bin eine Ethnologin meiner selbst. Und Erwin Strittmatter, wie der den Dialekt einsetzt.

Warum das »Wir«?

Es ging nicht anders zu erzählen, das Ich war nicht schreibbar. Am Anfang gab es nur reines Wir, aber dann habe ich gemerkt, dass es dokumentarischer sein muss und ich diese Vielstimmigkeit brauche. Da habe ich angefangen, die Interviews zu machen.
Und zum Dialekt: Manche meiner Protagonisten haben bis zum Schluss gekämpft, dass sie im Buch anders sprechen wollen. Die sagten dann: »Ich sprech doch gor ni so!« Da habe ich gesagt: »Hör dir mal zu.« Das ist so ein Minderwertigkeitskomplex, den Ostdeutsche mit sich herumtragen. Kein Bayer würde sagen: Streich mir das Bayerische raus.

Als im September 1991 in Hoyerswerda das Pogrom losging, saßen Sie mit Ihren Freunden im »Laden« und hörten dem Vortrag eines Mainzer Kunstwissenschaftlers über Joseph Beuys zu. Und draußen fuhr die Polizei mit Blaulicht.

Völlig absurd. Woran man aber auch sieht, wie abgehoben wir damals waren. Über das Pogrom wurde danach auch gar nicht geredet. In der Stadtgesellschaft war es ein komplettes Tabu und bei meinen Freunden ein Trauma.

War die Scham so groß, nichts gegen das Pogrom getan zu haben?

Die Scham muss erst noch kommen, wenn man die Geschichte der Opfer begriffen hat. Bei mir ist sie nun durch das Buch gekommen. Die Vertragsarbeiter aus Mosambik wurden nach dem Pogrom entlassen, in den Bus gesetzt und ausgeflogen – in ein Land, in dem Bürgerkrieg herrschte. Arbeitslosengeld und Abfindung haben sie nicht bekommen. Und vorher 60 Prozent von ihrem Gehalt auch nicht. Wer das einbehalten hat, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Die haben Gewerkschaftsbeiträge bezahlt, doch die Gewerkschaft hat sich nicht um sie gekümmert. Die haben in die Rentenkasse gezahlt und müssten Bergbaurente kriegen – nichts. Und in Mosambik kriegen sie keine Jobs, weil sie als Verräter gelten. Sie wurden ja von der linken Regierung in die DDR geschickt und beides gibt es nicht mehr.

Was ist das Trauma der »Kinder von Hoy«?

Nachdem die Vertragsarbeiter und die Asylbewerber verjagt worden waren, war die Stadt fest im Griff der Rechten, und sie jagten uns. Wir waren nicht nur Linke. Es hat schon gereicht, wenn man einen Vollbart oder lange Haare hatte. Die ganze Stadtgesellschaft brach auseinander. Die Leute wurden arbeitslos, später die Häuser abgerissen, und dann bricht noch dein innerer Kreis weg, weil du Angst hast, dich zu treffen. Dein Leben ist in Gefahr, wenn du von den Rechten erwischt wirst.

Man wusste wirklich nicht, was man machen sollte. Und dann ziehst du weg. Was hätte man gegen das Pogrom tun sollen? Ein Freund von mir ist in das Hochhaus rein, das beim Pogrom belagert wurde, und hat einen Mosambikaner, mit dem er sich im »Laden« angefreundet hatte, rausgeholt. Das habe ich erst hinterher erfahren, weil beide dann in München gewohnt haben. Der Mosambikaner ist inzwischen gut situiert und wohnt in der Schweiz. Einfach zu helfen, das hätte jeder tun können. Denn es ist ja nicht so, dass die Stadtgesellschaft hinter dem Pogrom stand. Die war indifferent und hat sich nicht artikuliert.

Es gab danach eine linke Gegendemo, aus West-Berlin organisiert. Doch die hat Ihnen auch nicht gefallen?

Die war verheerend, ich war ja dabei. Die haben auf alle, die ihnen entgegenkamen, eingeschlagen. Und die Leute aus Hoyerswerda, die da mitlaufen wollten, beleidigt. Denn es war klar: Wir sind alle Faschistenschweine. Und auf einem Dach standen die Nazis, die filmten uns. Da wusstest du, als Nächstes sind wir hier dran. So war es dann auch.

Sie schreiben, dass nur ein paar linke Jugendliche Erinnerungsarbeit betrieben haben.

Die trafen sich in dem linken Klub der Stadt, der überlebt hatte: »Dock 28«. Die haben vor ein paar Jahren die Initiative »Pogrom 91« gegründet, Material gesammelt und Zeitzeugeninterviews gemacht, teils mit Leuten, die inzwischen schon tot sind. Denen ist es zu verdanken, dass es überhaupt historisches Material gibt. Aber die Stadt hat diese Initiative voll auflaufen lassen. Diese jungen Leute haben alle die Stadt verlassen, nicht ein Einziger ist geblieben.

Später aber hat sich die »Initiative Zivilcourage« gegründet, die macht jetzt zum 30. Jahrestag unter anderem eine Fotoausstellung. Ein Fotograf ist in unserem Auftrag nach Maputo gefahren und hat die Mosambikaner, die aus Hoyerswerda vertrieben wurden, fotografiert. Die Fotos werden riesengroß aufgehängt, im Einkaufszentrum, wo alle hingehen. Das wird nächste Woche eröffnet. Die Menschen in Hoyerswerda sollen einmal in diese Gesichter schauen müssen.

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp, 255 S., br., 16 €.

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